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Im „Bundesbüdchen“ verkaufte auch schon mal Friedrich Nowottny Würstchen für den guten Zweck. Foto: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung

© Fotoarchiv Jupp Darchinger im Ad

Ehemalige Bundeshauptstadt: Bonner Purzelbäume

Vor genau 20 Jahren machte der Bundestag Berlin zur Hauptstadt. Interessant ist die Stadt am Rhein nun für Nostalgiker.

Hier irgendwo muss es passiert sein, am 20. Juni 1991, kurz nach 22 Uhr: Soeben hat sich der Deutsche Bundestag mit knapper Mehrheit zugunsten Berlins als Hauptstadt entschieden, da verliert Saaldiener Werner Tondorf die Fassung: „Dauernd sin de Bahnschranken discht, ewisch Stau auf de B 9 – deshalb isset schiefjegange mit Bonn!“ Hitzige Debatten wie um Hauptstadtfragen oder die Nachrüstung in den 80er Jahren – man muss sie sich schon aus seinem persönlichen „Tagesschau“-Gedächtnis hochladen, wenn man sonnabends an einer Führung im alten Wasserwerk teilnimmt, den einstigen Plenarsaal besucht und als Möchtegern-Abgeordneter mal eine Sitzprobe macht. Nein, allzu viel hallt hier aus Bonner Regierungszeiten nicht mehr nach im heutigen World Conference Center (WCC).

Dafür umso mehr in einer Blockhütte direkt vorm Kanzleramt, die außen nach finnischer Sauna aussieht und drinnen vorübergehend Bonns bekanntesten Kiosk beherbergt. Betreiber Jürgen Rausch erzählt bei Kassler und Kraut für vier fünfzig, dass Norbert Blüm bei ihm Zeitungen und Zigaretten holte, Genscher süchtig nach Gummibärchen war und wie Friedrich Nowottny nach einer verlorenen „Wetten dass ...?“-Wette in seinem Kiosk mal Würstchen verkaufte – eines davon an Loki Schmidt. Damals noch im Original-„Bundesbüdchen“, einem ovalen Pavillon in Nierentisch-Optik – jahrzehntelang für Politiker eine Nachrichtenbörse und persönliches Meinungsforschungsinstitut: Hier testeten sie politische Ideen im Bürgergespräch am Tresen des Pavillons. Der steht unter Denkmalschutz, musste jedoch 2006 für teures Geld von seinem Platz vorm alten Bundestag umgesetzt und zwischengelagert werden, weil hier weitere Gebäude fürs WCC hochgezogen werden. „Eben nischt“, ereifert sich Jürgen Rausch in näselndem Rheinisch, „seit Herbst 2009 liegt ja alles brach, weil der Investor pleiteging.“ Der 55-Jährige hofft inständig, dass sein „Büdchen“ trotzdem bald wieder ins Regierungsviertel zurückkehrt. Doch das kann dauern.

Genug Kundschaft hat Rausch, zumeist Touristen, die mal eine Wohnungsbesichtigung bei Kanzlers im Bungalow machen wollen. Das Tor, an dem Gerhard Schröder einst rüttelte („Ich will hier rein!“) rollt auf, mürrische Wachmänner („runter vom Rasen“) kontrollieren die Ausweise der Besucher, dann geht’s ganz dicht vorbei an den beiden goldglänzenden XXL-Zahnplomben, die Helmut Schmidt 1979 aufstellen ließ: „Large two forms“, eine Skulptur von Henry Moore, früher stets so eine Art Kunst im Bild, wenn TV-Korrespondenten vorm Kanzleramt berichteten. Versteckt im Park, zwischen dem Kanzler-Dienstsitz Palais Schaumburg und dem Rhein, liegt der Bungalow, geduckt unter Bäumen. Die Fassaden komplett aus Glas, innen nackte Klinkerwände und helle Hölzer – das war im Baujahr 1964 nicht nur sehr modern, sondern auch die architektonische Übersetzung von Kanzler Erhards Appell am Ende des Wirtschaftswunders: „Maßhalten!“

Trotzdem, zwei Millionen Mark für 204 Quadratmeter – das garantierte damals einen spontanen Neid-Aufruhr. „Ludwigslust“ spotteten Zeitungen in Anspielung an Erhards Vornamen. Der Haushaltsausschuss des Bundestages rückte eigens an zur „Abnahme“ des skandalumwitterten Swimmingpools. Ein Open-Air-Planschbecken von drei mal sechs Metern, das später sogar Eingang in Kanzler Kiesingers Tagebuch fand: „Sechs Stöße Brust, Purzelbaumwende, sechs Stöße Rücken – täglich!“ Gedimmtes Licht aus Stehlampen in Röhren- und Tortenform, zeitlose Ledersofas – das im kühlen Originalstil wieder hergerichtete, großzügige Empfangszimmer könnte heute Ausstellungsraum eines modernen Möbelhauses sein. Kiesinger mochte es nicht, ließ stattdessen Antiquitäten reinschaffen, Brandt wohnte gar nicht im Bungalow und Schmidt schimpfte über die (wirklich engen) „Schlafwagenabteile“, in denen er hier nächtigen musste. Nur Helmut Kohl hatte in Oggersheim genügend Flachdach-Erfahrung gesammelt, wohnte von allen Kanzlern am längsten im Bungalow und hinterließ beim Auszug ein beeindruckendes 80er-Jahre-Stillleben: den Perserteppich mit schwarz-weinrotem Muster unterm Esstisch, darüber ein abgehängter Lämpchenwald aus Minifunzeln. An der Wand eine pastellfarbene Landschaftsimpression: „Kärntner Berge im Vorfrühling“. Die Nebenräume vornehmlich in Beige und Braun: Cord-Sofas, Travertin-Fliesen, Velourtapeten. „Spießig“ und „erstaunlich schlicht“ raunen viele Besucher staunend beim Rundgang.

Ganz anders in Godesberg, Bonns südlichem Villenstadtteil – Spitzname „Pensionopolis“, wegen der vielen hier lebenden Ruheständler. Sehr Wohlhabende unter ihnen haben sich nach dem Regierungsumzug nach Berlin hier prächtige Botschafts-Residenzen gekauft. „Die sind alle unter der Hand weggegangen“, sagt Stadtführer Dieter Dohm. Einige der Ex-Botschaften kann man heute besichtigen. „Visafreie Einreise nach Russland“, heißt es etwa an der ehemaligen Sowjet-Vertretung, heute russisches Generalkonsulat und für Besuchergruppen geöffnet. Vor der ehemaligen indischen Botschaft erzählt ein vormaliger Angestellter aus Bonner Zeiten. Die Touren zu Fuß, per Rad oder im Bus enden meist im Maternus am Godesberger Bahnhof. Auf den ersten Blick ein altdeutsches Gasthaus mit geblümten Stühlen, dunkel getäfelten Wänden und Zinnkrügen im Regal. „Heute immer noch Hans-Dietrich Genschers Stammlokal“, erzählt Kellnerin Monika, „und früher das der ganzen Bonner Prominenz.“ Als Beweis legt sie ein Fotoalbum auf den Tisch. Darin Barzel und Brandt in Großer Bier-Koalition, Scheel und Annemarie Renger tanzend, „Stern“-Gründer Henri Nannen lacht mit Friedrich Nowottny um die Wette. Mittendrin stets Chefin Ria Maternus, die alle „Kolibri“ nannten, weil sie zwischen den Promis nur so hin- und herschwirrte.

Schon zu Adenauer in den 50er Jahren hatte Ria Maternus einen guten Draht. Wer dem „Alten“ heute nahe kommen will, muss in sein Rhöndorfer Haus. Erste Erkenntnis: Adenauer hat nicht nur die CDU und die Bundeshauptstadt Bonn erfunden, sondern auch das beleuchtete Stopfei, einen elektrischen Insektentöter, sowie die Einhandbedienung für Gartenschläuche. Die Beweise liegen in Schaukästen. Als besessener Tüftler verbrachte Adenauer die Jahre unter den Nazis, die ihn als Kölner Bürgermeister im März 1933 abgesetzt hatten.

Der Kanzler Adenauer besaß zwar kein rotes Telefon wie der US-Präsident, aber immerhin eines mit rotem Knopf. Die direkte Verbindung ins Kanzleramt, ohne langwieriges Wählen – damals ein enormer technischer Fortschritt. Die plüschige Einrichtung ist gespickt mit Geschenken von Staatsoberhäuptern; die durften Kanzler damals noch behalten – etwa das von Churchill gemalte Bild griechischer Säulen.

Erst auf den zweiten Blick wird die ganze Größe des in einen Steilhang gebauten Anwesens mit Bocciabahn, Pavillon und mehreren Terrassen deutlich. Jedes Jahr zu Weihnachten kommen Adenauers Nachfahren hier zum Familientreffen zusammen, kochen und backen in der 50er- Jahre-Küche. Vielleicht sogar das vom „Alten“ ebenfalls erfundene „Notbrot“ aus Mais-, Gersten- und Reismehl sowie Weizenkleie. Ein ziemlich staubtrockener Knust – Kostproben gibt’s bei Bäckermeister Profittlich am Rhöndorfer Markt.

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