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Hotelkolumne für Warschau: Eine Nacht im nicht ganz so historischen Europejski
Die polnische Hauptstadt ringt um ihr Image. Soll man sich an die königliche Vergangenheit erinnern oder in die Moderne flitzen? Ein Besuch im besten Haus der Stadt klärt auf.
Stand:
In Warschau reiben sich Vergangenheit und Gegenwart. Meist auf eine schmerzliche Art, die von Leerstellen und Verlusten erzählt. Das beginnt beim Schloss in der Altstadt, das erst von der deutschen Wehrmacht komplett zerstört und danach von den Polen originalgetreu wiederaufgebaut wurde, das geht weiter bei der Synagoge von Praga, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kommunisten abgerissen wurde, und hört nicht auf bei der eleganten Wendeltreppe im Hotel Europejski, die drei Etagen miteinander verband und bei der Sanierung vor etwa 15 Jahren einfach verschwand.
Goldene Messingkreise erinnern heute im Boden an sie, eingelassen in den hölzernen Fußboden. Jedrzej Grzesiak weist auf sie hin, er hat nicht nur einen Zungenbrecher als Namen, sondern auch eine Schreckpistole im Titel. Butler nennt das Raffles Hotel Europejski seine Tätigkeit – was einem als aufgeklärten Europäer immer leicht zusammenzucken und an steife Banketts mit undurchschaubarer Kleiderordnung denken lässt.
Der junge Pole, der britisches Englisch sehr gern hört, ist eigentlich Erlebnis-Ermöglicher, Inhaltserklärer und Schnittstelle zwischen Service und Gast. Einen Warsaw Sling (mit Lebkuchensirup statt Grenadine) in der Long Bar? Oder ein Dinner im The Grill? Jedrzej Grzesiak deichselt das schon, höchst effizient trotz altmodischem Titel.
Die polnische Hauptstadt ringt um Tradition und Modernität. Sie will zeitgemäß wirken, ohne die Geschichte zu verprellen. Das Hotel Europejski wurde 1857 unter derselben Prämisse eröffnet. Es lag direkt am Königsweg, den vier Kilometer langen Straßenzügen zwischen Königsschloss in der Altstadt und Lazienski-Palast im Süden der Hauptstadt. Nur die repräsentativsten Gebäude sollten an dieser Route legen – und mit dem Europejski gelang es den Betreibern, eines der luxuriösesten Hotels des Kontinents aufzuschließen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zog zuerst die Militärakademie in die stark zerstörten Räume ein, in den 1960er Jahre durfte schließlich das staatliche Touristikunternehmen Orbis ein Drei-Sterne-Haus installieren. Im Sozialismus ließ man den Überfluss eindampfen, die Einzelbetten standen teilweise hintereinander an der Wand – wie in einem besseren Schülerinternat. Dieses Kapitel der Vernachlässigung endete im Juni 2005, als eine mehrjährige Renovierung einsetzte.

© Raffles Hotels
Ab 2018 übernahm der singapurische Hotelbetreiber Raffles das Karree mit seinen 106 Zimmern auf drei Etagen. Seitdem schwelgen die Gäste in federweichen Betten, waschen sich in Marmorbädern und blicken auf den geschäftigen Königsweg oder den Sächsischen Garten auf der Rückseite des Gebäudes. Von einigen Fenstern streckt sich das Wahrzeichen des modernen Warschaus in den Himmel, die Spitze des Kulturpalasts, ein Geschenk der Sowjetunion an den sozialistischen Bruderstaat.
Auch dort bemüht man sich gerade um eine bessere Überführung in die Zukunft. Der riesige Platz vor dem Palast ist überall aufgerissen, ein neuer Park soll entstehen. Büsche statt Beton, freundliches Grün statt stalinistischem Grau. Der weiße Riegel des neuen Museums für Moderne Kunst steht schon, Eröffnung war im vergangenen Oktober.
Zeitgenössische polnische Kunst erlaubt sich auch das Raffles. Auf allen Etagen finden sich Installationen, Aquarelle und Drucke, insgesamt 500 Werke von 120 Künstlern des Landes. Es gibt einen hauseigenen Kurator, der auf Anfragen Touren durchführt. Jedrzej Grzesiak kann das natürlich vermitteln.
Vor der Tür macht sich hingegen Geschichtskitsch breit. Die wiederaufgebauten Viertel rund ums Zentrum beweisen zwar den Willen eines Landes, sich nicht die Vergangenheit nehmen zu lassen, aber zwischen Café-Ketten, Souvenirläden und ockerfarbenen Fassaden bleibt oft wenig Charakter hängen.
Ein paar U-Bahn-Stationen entfernt, auf der anderen Seite der Weichsel, kämpft die Stadt tatsächlich um die Gegenwart. Im Bezirk Praga reibt sich Architektur: Abgebröckelte Fassaden ächzen neben frisch verputzten Türmchen. Marcin Malinowski sagt: „Warschau ist wie ein Fluss, der sich ständig verändert, aber langsam fließt.“

© Ulf Lippitz
Der 56-jährige Musiker führt Touristen durch sein Heimatviertel, auf der Website von Withlocals kann man ihn buchen. Zweieinhalb Stunden zeigt und erklärt er, wie sich der alte Arbeiterbezirk bereits verändert hat und wo es noch ordentlich Potenzial hat. Der Rundgang beginnt am Port Praski, dem alten Hafen, an dem früher Schiffe ihre Güter an Land brachten und heute ein runderneuertes Wohngebiet mit Cafés, Restaurants und Grünflächen entstanden ist.
Streetart tapeziert Brandmauern zu, bunte Motive wischen die Ödnis weg. Immer wieder dabei: ein Taucher, der manchmal eine leblose Meerjungfrau, das Symbol Warschaus, in den Armen trägt. Er wacht an Gebäuden und Brückenpfeilern, auch unten am Fluss in Praga. Marcin Malinowski ist auch nicht sicher, woher die Bilder kommen.

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Er geht die Straßen entlang, die größtenteils nicht von den Deutschen zerstört wurden, weil damals bereits die Rote Armee an dem Weichselufer stand – und nicht eingriff, als die Wehrmacht die Hauptstadt schleifte. Das Verhältnis zwischen Russen und Polen ist kompliziert, nicht nur wegen dieser Tat, erklärt Malinowski. Von slawischer Brüderliebe kann jedenfalls keine Rede sein.
Das restaurierte Gelände der Wodkafabrik Koneser ist vermutlich das Vorzeigeobjekt des Bezirks. Im Backstein-Gemäuer finden sich heute ein Museum, diverse Lokale mit Terrassenplätzen, Büros, ein Hotel und der lokale Google-Campus. 2018 wurde das Areal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, ein blitzblanker Investorentraum zwischen grauen Altbauten.

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Unweit davon findet sich die Stalowa-Strasse, Marcin Malinowski redet vom Bermuda-Dreieck, in dem früher Ausgehwillige in Kneipen und Bars verschwanden. Manche Einwohner sprechen von einer Gentrifizierung der Straße, weil sich nun eine Hipster-Bäckerei und zwei schicke Lokale beinahe gegenüber niedergelassen haben. Wer einmal durch Neukölln gewandert ist, kann über diese Angst nur herzlich lachen. Selbst am Wochenende wirkt es ruhig, die Langsamkeit von Praga wirft an Sommerabenden lange Schatten.
Doch drinnen, bei den Peaches Gastro Girls, einem der beiden neuen Restaurants, brodelt es. Die vegane Karte kann es locker mit den internationalen Konkurrenten in Berlin und Melbourne aufnehmen. Gegrillte Austernpilze, die leicht mit Vollrohrzucker bestrichen sind und in einer Cashew-Sesam-Sauce serviert werden. Knackig geröstete Mohrrüben, die mit einer scharfen koreanischen Paste glasiert sind. Das ist hochmoderne Kochkunst in weißgetünchter Atmosphäre – und ein kompletter Bruch mit der Vergangenheit. Da reibt sich nichts im Mund, sondern verschmilzt zu einem sinnlichen Erlebnis von Warschau.
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