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Bunt, verspielt und instagrammable. So soll es bei den Neo-Hippies zugehen.

© Hedoné /A.Schwarz

Neo-Hippies: Warum der Trend zu „Make love, not war“ jetzt wieder kommt

In wallenden Gewändern feiern sie die Liebe: Die Neo-Hippies lassen die 60er wieder aufblühen. Doch ihr Lifestyle kommt von der Stange.

Auf der Einladung stand: „Dresscode: weiß“. Wie bitte? Eigentlich doch ein Tabu, denn die zwei unumstößlichen Regeln einer jeden Hochzeit lauten „Sei nicht hübscher als die Braut“ und, daraus abgeleitet, „Trage niemals weiß“. Bei dieser Feier war alles anders.

Vor der Kulisse eines heruntergekommenen Gutshauses, gelegen an einem See mit angrenzendem Waldstück, liefen die Gäste mit ausladendem Blumenkopfschmuck herum. Alle hatten weiße und cremefarbene Kleider und Anzüge an, das Brautpaar wurde nicht auf Händen oder Stühlen durch die Gegend getragen, stattdessen von den geladenen Freunden zu Mann und Frau erklärt. Spätestens nach Mitternacht verschmolzen alle zu einem Knäuel aus schönen Menschen, die kollektiv die Liebe feierten. Jemand verstäubte Glitzer über den Tanzenden, die sich an Wein und anderen Substanzen berauschten. Es war ein wenig wie ein Sommernachtstraum, nur dass die Elfen und Faune auf Techno tanzten.

Feierte man sich als junger, freiheitsliebender Mensch in Berlin vor ein paar Jahren noch individuell und dann doch uniform schwarzgewandet, sind die Raver von einst mittlerweile vom Keller in den Wald ausgebrochen. Kunstkollektive veranstalten sexpositive Partys: Wildes Knutschen auf der Tanzfläche ist völlig okay, und wer mehr will, kann sich in Playrooms zum spontanen Sex zurückziehen. Auf diesen Veranstaltungen trägt kaum einer Lack und Leder, dafür Geweihe und Blumenschmuck. Und nicht nur der Look ist anders: Egoistische Lustbefriedigung gilt in diesen Räumen als verpönt, es geht um Umsicht und ganz viel Liebe – genau wie schon vor 50 Jahren. Knapp miteinander bekannte Menschen fragen sich, ob alles in Ordnung sei, verteilen freigiebig Komplimente und Umarmungen.

Auch die Wirtschaft hat den Trend erkannt

Aber wieso kommt der Trend zu „Make love, not war“ jetzt wieder? Warum zieht es vor allem die sonst so individualistischen Twentysomethings zurück in den Trommelkreis? Und wie viel hat das mit der ursprünglichen Idee des Hippietums zu tun?

Vor allem zur Festivalsaison kommen diese Neo-Hippies hervor, posten jeden Tag Selfies in wechselnden Outfits. Vom Morgenyoga, mit anderen Neo-Hippies zu einem großen Kuschelmandala verschlungen, beim Seifenblasenpusten und beim Tanzen im Zelt unter dem psychedelisch leuchtenden Zeltdach. Jetzt im Herbst setzt das Elfenvolk die Feierei in Berliner Clubs fort, wo im bunten Blätter- und Beerenschmuck Bacchus gehuldigt wird. Einzig an der Tür geht es streng zu: Straßenkleidung wird nicht akzeptiert, eine nachlässig übergeworfene Toga ist nicht aufwendig genug. Nur die stilvolle Elfe darf in den Zauberwald.

Das hat auch die Wirtschaft verstanden. In einem durchschnittlichen Berliner Arkaden-Kaufhaus finden sich locker zehn verschiedene Blumenkränze und eine breite Auswahl an Blätterohrringen, bunt gemusterten Schals, um die Haarpracht zu bändigen, und bodenlangen Wallewesten. Im Drogeriemarkt hängen auf dem Aufsteller „Alles, was du für dein Festival brauchst“ neben Sonnenspray und Mückenschutz auch Modeschmuck-Ketten mit cremefarbenen Bommeln, passend zum Häkelbikini, den weißen Hotpants und der rosa getönten Fliegersonnenbrille. Mittlerweile hat jeder gut sortierte Onlineshop ein „Dein Festivaloutfit“-Stylebook inklusive bunten Tuniken an gebräunten Models mit sonnengebleichten Haaren. Fehlt nur noch der pastellfarbene VW-Bulli, um loszufahren.

Junge Großstadtmenschen wollen sich in Glitter wälzen

Als Tribut an ihre Eltern oder Großeltern kramen die Neo-Hippies die Ethno-Print-Blusen aber kaum aus der Mottenkiste. Ist die Rückkehr zu Mutter Erde stattdessen aus einem Fluchtreflex entstanden? Aus einer Sehnsucht nach Geborgenheit zwischen rauem Beton, wackeliger politischer Lage und prekären Arbeitsbedingungen?

Lena Papasabbas von der Marktforschungsfirma Zukunftsinstitut erklärt das Phänomen mit dem Druck der Individualität. Wenn der für die jungen Großstadtmenschen zu stark wird, streben sie ins Kollektiv, das sich gemeinschaftlich vegan ernährt, in Glitter wälzt und ganz viel Körperkontakt sucht. „Neo-Hippies feiern einen Kollektivismus, der eigentlich eine Fortsetzung des westlichen Trends zum Individualismus ist“, sagt sie. „Man hat erkannt, dass der Alleingang auch nicht das Wahre ist und wählt jetzt ganz bewusst enge Freundesgruppen, die eine Art Familie bilden.“

Das Wort „Hippie“ kommt eigentlich von „hip“ und ist mit den Hipstern der 60er verknüpft: Junge Beatniks, die in die billigen Viertel San Franciscos zogen und dort neue Lebensentwürfe ausprobierten. Die Blumenkinder waren in Wirklichkeit keine Selbstversorger, die sich mal eben sorglos ein Wallegewand überwarfen. So wie die Hipster von heute verbrachten sie viel Zeit damit, so auszusehen, als hätten sie eben keine Zeit vor dem Spiegel verbracht – oder als besäßen sie gar keinen.

Der Weg vom Alt- zum Neo-Hippie ist kurz

Zum Hedoné trafen sich Neo-Hippies im polnischen Debrznica.
Zum Hedoné trafen sich Neo-Hippies im polnischen Debrznica.

© Hedoné /A.Schwarz

In Woodstock jedoch dominierten weniger die großflächigen Blumenprints als schlichte weiße T-Shirts und Jeansschlaghosen. Im Haight-Ashbury-Viertel in San Francisco, das bald den Spitznamen „Hashbury“ bekam, mieteten sie sich in die historischen Häuser ein, die in den Nachkriegsjahren leerstanden und trieben die Gentrifizierung des Viertels voran. Auf einmal waren die Straßen voller Hanfläden, Kleinkunsttheater und Vollwertkostcafés. Heute zeichnet sich das Viertel durch Sneakershops und Vintageläden aus.

Hört sich bekannt an? Der Weg vom Original- zum Neuhipster, vom Alt- zum Neo-Hippie ist kurz, trotz eines halben Jahrhunderts Abstand.

Die Blumenkränze und der Hang zu knalligen Farben kamen in der Technokultur der 90er kurzzeitig wieder auf, nur, dass die Sonnenblumen jetzt zu harten Elektro-Beats wippten. Im neuen Jahrtausend nahm dann die Burner-Bewegung Fahrt auf, zunächst beim Burning Man-Festival. Aussteiger fahren inzwischen von überall auf der Welt mit bunten Vans los, nach Kalifornien oder ins Brandenburgische, um eine Utopie des abgeschiedenen Gemeinschaftslebens und der kollektiven Kunst aufzubauen, wie einst die Hippies.

Dafür bedienen sie sich bis heute modisch bei ihren Vorgängern: Lange Baumwollwesten umrahmen nackte Brustkörbe, auf denen großteilige Holzperlenketten ruhen, durchsichtige Maxiröcke und Wildlederbustiers mischen sich mit Cyberpunk- und Renaissance-Elementen wie Schweißerbrillen und Reifröcken.

Die Hippies von einst können sich nur wundern

Der Neo-Hippie hat also Lust auf Kindergeburtstag und Rückkehr in die Natur. Möglichst bunt und verspielt muss es zugehen, dabei unbedingt ästhetisch oder eben „instagrammable“, Instagram-tauglich. Dass diese Bilder, für ein Publikum gemacht werden, darüber kann auch der versunkene Gesichtsausdruck auf dem Foto vom Kopfstand beim Abendyoga am thailändischen Strand nicht hinwegtäuschen. Einfach hängen lassen ist nicht, unrasierte Achselhöhlen sieht man selten beim Coachella in Kalifornien, dem Berliner Burn-Ableger Kiezburn oder dem polnischen Garbicz-Festival. Glitzer und Körperbemalung sind stets sorgsam aufgetragen. Zu einem Festival nimmt ein Burner leicht zwei Outfits pro Tag mit und reist um die halbe Welt. Besonders nachhaltig ist das nicht, dafür sind die Kondome der Marke Einhorn bio und vegan.

„Eigentlich geht es den Neo-Hippies überhaupt nicht um materielle Werte – sie brauchen keine Rolex und kein Auto“, sagt die Zukunftsforscherin Papasabbas. Wichtig seien der Zielgruppe immaterielle Werte wie Erlebnisse und Gemeinschaft. „Aber sie sind auch bereit, viel Geld für diese Erlebnisse auszugeben und verfallen dann in Konsummuster, die sie eigentlich ablehnen.“ Neo-Hippies sind für die Marktforschung auch deshalb so interessant, weil sie einen hohen Bildungsstand und eine hohe Kaufkraft haben und eine schnell wachsende Gruppe sind. Über sechs Millionen soll es in Deutschland bereits geben, ergab die Lebensstil-Analyse des Zukunftsinstituts.

Die Hippies von einst können sich über diesen Lebensstil nur wundern. Die Autorin Rhiannon Lucy Cosslett beschreibt im „Guardian“ ihre Kindheit als Tochter gemäßigter Hippies und ihren Leidensweg, wenn es mal wieder nur Hummus auf dem Pausenbrot gab. Sie erinnert sich an unmodische Klamotten aus der Kleiderkette und einen sparsamen Lebensstil mit Linsen-Großpackungen und Eingemachtem in der Speisekammer.

Davon unterscheiden sich die Fashion-Hippies von heute schon. Zwar sind Kleiderkreisel und Flohmärkte wieder in Mode, genauso wie Weckgeschirr und veganes Essen. Der Paleo-Dattelriegel kommt aber meist aus der Bio-Bäckerei, die Marmelandengläser sind dekorative Limo-Gefäße, und zum Kleidertausch werden die Stücke gegeben, die man bei der letzten Party bereits präsentiert hat. Auch mit Befreiung von Konventionen haben die knappen Bodys und durchsichtigen Blusen nicht mehr viel zu tun.

Was bleibt, ist die Sehsucht nach dem Sommernachtstraum

Der Einfluss von sexpositiven Partyreihen und Clubs wie dem Berliner KitKat zeigt sich im Stil der Neo-Hippies. Zwar sieht man auf den Festivals auch den typischen Rastaträger in Pumphose. Und die Seminare zu Konsens bei Orgien, Techniken zum Beckenbodentraining mithilfe von Halbedelsteineiern und dem Verhältnis zur eigenen Gebärmutter leisten sicher einen Beitrag zum bewussteren Miteinander und zur besseren Kommunikation in der freien Liebe. Im Gegensatz zu den Alt-Hippies geht es den Kindern der Blumenkinder aber eher um alternative Lebensentwürfe als um Rebellion gegen konkrete Gruppen oder Personen. „Auch wenn sie nur am Rande der Party stattfinden – Werte wie Nachhaltigkeit und Anliegen wie der Kampf gegen den Klimawandel oder den globalen Wachstumskapitalismus liegen den Neo-Hippies am Herzen“, sagt Papasabbas. Zumindest den Anspruch teilen sie mit ihren Vorgängern.

Die Nacht dauert lang bei der Hochzeit im Zauberwald, es ist schon längst wieder hell, als sich die letzten Gäste zusammen in die Betten kuscheln. Das Aufwachen und die Abfahrt am nächsten Morgen sind grausam. Je näher der Bus von der Hochzeit Berlin kommt, desto weniger wollen die Gäste die Verbundenheit der vergangenen Nacht loslassen. Zu Hause warten Termindruck, müffelnder öffentlicher Nahverkehr und ein heraufziehender Herbst.

Es bleibt die Sehnsucht nach einer warmen, fürsorglichen Parallelwelt, in der es jedem frei steht, halbnackt herumzulaufen und elfengleich durch den Wald zu hüpfen. Auch wenn der Sommernachtstraum, wie bei Shakespeare, durch Liebesnektar angetrieben wird und nur ein vorübergehender ist – ein wenig Ringelreigen im Wald ist vielleicht nicht das schlechteste Mittel gegen die Kälte.

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