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Die Intensivstationen für Kinder sind schon jetzt fast voll ausgelastet.

© picture alliance / dpa / Frank May

Update

Dramatischer Bettenmangel in Kinderkliniken: „Sie sterben, weil wir sie nicht versorgen können“

Deutschlandweit gibt es aktuell nur noch 83 freie Intensivbetten für Kinder. RS-, Grippe- und Erkältungsviren überlasten die Krankenhäuser. Ärzte senden Hilferufe.

| Update:

Die große Zahl von Ansteckungen mit RS-, Grippe- und Erkältungsviren stellt das Gesundheitssystem aktuell vor große Herausforderungen. Vor allem in vielen Kinder-Krankenhäusern werden die freien Betten knapp.

Laut einer Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), deren Ergebnisse dem Tagesspiegel vorliegen, verfügen 47 von 110 teilnehmenden Kliniken mit Kinderintensivstationen über kein freies Bett mehr. Viele haben bereits Anfragen von Rettungsdiensten und Notaufnahmen ablehnen müssen. Insgesamt stehen deutschlandweit nur noch 83 freie Intensivbetten für Kinder zur Verfügung.

Wenn ein gerade reanimierter Säugling in einer eigentlich voll belegten Kinderklinik aufgenommen werde, müsse dort ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten. In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, hatte es im RKI-Wochenbericht vergangener Woche geheißen.

Einer der Gründe ist nach DIVI-Angaben der in den Kliniken herrschende Personalmangel. Er führe dazu, dass rund 40 Prozent der vorhandenen Betten nicht genutzt werden könnten. Vielerorts fehlten vor allem Pflegekräfte, aber auch Ärzte.

Theoretisch hätte es an dem Tag der Divi-Umfage in Deutschland insgesamt 607 Kinderintensivbetten gegeben. 367 waren allerdings nur nutzbar. Von denen ist aber ein Großteil belegt.

Und um diese wenigen Betten wiederum konkurrierten kleine Patienten aus der Notaufnahme im eigenen Haus oder von den Rettungsdiensten. Hinzu kämen Anfragen von Kliniken mit einer geringeren Versorgungsstufe. „Da sehen wir, dass jede zweite Klinik in den letzten 24 Stunden ein Kind letztendlich ablehnen musste“, erklärt der DIVI-Generalsekretär und Münchner Kinder-Intensivmediziner Florian Hoffmann.

Jetzt werden drei Jahrgänge von Kindern diese Infekte durchmachen, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen.

Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover

Und weiter: „Das ist eine katastrophale Situation, anders ist es nicht zu bezeichnen. Deshalb fordern wir die sofortige Optimierung von Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen. Wir müssen jetzt endlich handeln.“

Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, warnte der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse. Die Lage sei ohnehin schon prekär. Doch die enorme Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) habe die Situation noch einmal verschlimmert.

„Jetzt werden drei Jahrgänge von Kindern diese Infekte durchmachen, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen“, sagte Sasse mit Blick auf die aufgehobenen Corona-Beschränkungen. Das überfordere die Kliniken in „totaler Weise“. Inzwischen würden Kinder auf Normalstationen behandelt, die eigentlich auf Intensivstationen gehörten.

21 Kliniken angerufen, dann gibt es ein freies Bett

Weil alle Betten voll waren, wurde zum Beispiel aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt, Entfernung rund 150 Kilometer.

„Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen“, berichtete Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie. Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann. Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen. Dann müsse ein Kind, dem es besser geht, an seiner Stelle verlegt werden. 

Dramatisch sei die Lage in diesen Tagen auch in Berlin, sagt Tobias Tenenbaum, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Sana-Klinikum Berlin-Lichtenberg und erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Trotz der großen Zahl an Kliniken müssten Kinder regelhaft ins Umland verlegt werden.

Sechs bis sieben Studen Wartezeit sind in Notaufnahmen keine Seltenheit

Dass zurzeit ungewöhnlich viele jüngere Kinder unter grippeähnlichen Symptomen leiden, hängt laut Tenenbaum auch mit der Corona-Pandemie zusammen. Durch das Tragen von Masken und Abstandsregeln zirkulierten in dieser Zeit die üblichen Atemwegsinfektionserreger kaum, sodass sich das Immunsystem vieler Kinder nicht ausreichend mit den Viren auseinandersetzen konnte. Ähnlich wie im Vorjahr sei nun deshalb ein „Nachholeffekt“ zu beobachten.

Die Kindermediziner sehen jedoch nicht die Pandemie als primäre Ursache der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“

Sechs bis sieben Stunden Wartezeit seien aktuell in manchen Notaufnahmen keine Seltenheit, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch. 

Für den Bettenmangel in Kinderkliniken sieht die Linke die Verantwortung bei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Das sind unhaltbare Zustände“, sagte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch am Donnerstag in Berlin. „Der Gesundheitsminister hat sich um dieses Thema zu wenig gekümmert.“ Ankündigungen vom Oktober seien nicht umgesetzt worden. „Kinderkliniken müssen endlich Top-Priorität bei Herrn Lauterbach werden“, forderte Bartsch.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nannte die Meldungen aus den Kinderkliniken „sehr besorgniserregend“. Er habe mit mehreren Krankenhäusern und Medizinern telefoniert, sagte er am Donnerstag in Berlin. „Wir sind absehbarerweise noch nicht am Ende der Welle,  die im Wesentlichen durch das RSV-Virus verursacht wurde“, sagte Lauterbach. Er kündigte mehrere Sofortmaßnahmen an. Personal werde von Erwachsenen-Stationen in Kinderkliniken verlegt, zudem werde die telefonische Krankschreibung von Kindern ermöglicht. „Eltern können zu Hause bleiben und müssen nicht in die Praxis kommen“, sagte Lauterbach. Er appellierte zudem an Eltern mit gesunden Kindern, Vorsorgeuntersuchungen aufzuschieben.

Lauterbach rief Eltern und Verwandte von kleinen Kindern zum Tragen von Masken auf, wenn sie Erkältungssymptome hätten. „Sehr häufig wird dieses Virus von Erwachsenen auf Kinder übertragen“, sagte der Gesundheitsminister.

Der Bundesgesundheitsminister will an diesem Freitag zwei Finanzspritzen beschließen. Für Kinderkliniken soll es nach den Gesetzesplänen der Ampel-Koalition 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr geben, zum Sichern von Geburtshilfestandorten jeweils 120 Millionen Euro zusätzlich. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der jetzigen, leistungsorientierten Logik werden. (mit Agenturen)

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