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Blick in den Raum mit Bradfords begehbarer Arbeit „Float“ aus Leinwand, Seilen und Papier.

© Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia © Courtesy Mark Bradford und Hauser & Wirth Powered by

Im Tunnel der Träume: Mit Mark Bradford eröffnen die Rieckhallen wieder

Der Hamburger Bahnhof hat seinen kolossalen Appendix zurück. Die erste deutsche Soloschau des amerikanischen Künstlers und zehn Werke der Sammlung füllen die Räume.

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Wo keine Züge fahren, entfesseln sie die größten Fantasien. Das war schon immer so im Hamburger Bahnhof: Obwohl er vergleichsweise kurz genutzt und schon 1884 für Reisende geschlossen wurde, wirkt seine Funktion bis heute nach. Künstlerinnen und Künstler ließen sich von der Atmosphäre der riesigen Empfangshalle inspirieren, andere schufen Verbindungen nach draußen, wo immer noch Schienen vor sich hinrosten. Und Mark Bradford zählt Passagiere.

Er tut dies auf riesigen Bilderformaten in Kolonnen, ein bisschen erinnert es an die Datenströme in dem Science Fiction „Matrix“. Bloß weniger digital, Bradford schreibt jede von ihnen per Hand. Ein Fan der Affichisten, die in Paris ab den 1940er Jahren Plakate abrissen, um mit ihrer Alltagskunst gegen das abstrakte Informel zu demonstrieren, ist er auch. Im übrigen aber zählt der in Los Angeles lebende Künstler, Jahrgang 1961, zu den großen, unbeeinflussbaren Talenten, die ihr Werk aufs engste mit dem eigenen Leben verschränken.

Bradfords erste Soloschau in Deutschland

Mit seiner Ausstellung „Keep Walking“, der ersten Soloschau in Deutschland überhaupt, eröffnen die zum Hamburger Bahnhof gehörenden Rieckhallen nach mehrjähriger Pause wieder. Allein das zeigt, wie hoch Bradford bei den Museums-Direktoren Till Fellrath und Sam Bardaouil rangiert. Der Abzug der Sammlung Flick aus jenen 3000 Quadratmeter zählenden Hallen, die quasi im letzten Moment vor dem Abriss gerettet werden konnten – und die Erkenntnis, dass sich die Staatlichen Museen zu Berlin viel zu spät um eine Klärung der Mietverhältnisse gekümmert hatten –, waren ein echter Skandal. Um so größer ist die aktuelle Aufmerksamkeit, verbunden mit der Frage, was die erst nach den Verwerfungen angetretenen Chefs aus der Situation gemacht haben.

Vorweg: Es ist ziemlich gut geworden. An Bradfords Ausstellung schließen in den tunnelartigen Rieckhallen mehrere Säle an, in denen Werke der Bundeskunstsammlung gezeigt werden. Am Ende wartet wie früher der Bruce-Nauman-Saal, dessen Werk Sammler Christian Flick dem Hamburger Bahnhof als Schenkung überlassen hat.

Neues und Vertrautes, Sonderausstellungen neben Sammlungspräsentation und noch mehr Pläne für einen Teil des Außenbereichs: Fellrath und Bardaouil geben dem Komplex so selbstverständlich ein anderes Gesicht, dass man die früheren Querelen darüber fast vergisst.

Spuren von Abrieb und Abriss

Allein die Sonderschau. Da sind die Zahlenbilder, diese monumentalen Tafeln der Erinnerung, die an die in Zügen verschleppten jüdischer Mitbürger ab 1940 in die Konzentrationslager erinnern sollen, für Bradford vor allem jedoch eng mit der „Great Migration“ nach 1910 verbunden sind, während derer Millionen Schwarze US-Amerikaner aus den Südstaaten flohen. „You don’t Have to Tell Me Twice” hat sie der Künstler genannt und lässt trotzdem Raum für die ästhetische Entfaltung seiner Materialien, den Spuren von Abrieb und Abriss, die die Motive wie abgewetzte Plakate aussehen lassen.

Mark Bradford, Courtesy der Künstler und Hauser & Wirth

© Courtesy der Mark Bradford und Hauser & Wirth

Mit jeder Schicht schält sich ein Stück Vergangenes heraus, das genau angeschaut und gewürdigt werden will. Es wiederholt sich in der Serie „Pinocchio is On Fire“. 27 Vinylplatten in ihren von Bradford gestalteten Covern hängen an den Wänden, Symbol für ebenso viele an Aids verstorbenen Freunde. Durch den Saal führen zwei Wände, die sich verengen und mit komplett geschwärzten Zeitungsseiten gefüllt sind. Dass sich die Installation auf den R&B Sänger Teddy Pendergrass bezieht, muss man sich lesend aneignen, denn die Situation, auf die Bradford mit seiner Arbeit hinweist, hat in Deutschland in den 1980er Jahren weit weniger Wellen geschlagen: Damals war Pendergrass Opfer eines Autounfalls – und die Transfrau, die mit ihm im Wagen saß, ließ sein Image vom hypermaskulinen Schwarzen Star bröckeln.

Pinocchio im Labyrinth der Lügen

Zuschreibungen, Konstruktionen, Lügen: In dieser von Gewalt geprägten Situation der frühen achtziger Jahre hat sich Bradford seiner eigenen Schwarzen wie queeren Identität versichern müssen. Das Dasein als Pinocchio im Labyrinth der Schutzbehauptungen kennt er zur Genüge, als Künstler gelingt es ihm, die eigenen Erfahrungen in allgemein verbindliche Erfahrungen der Verunsicherung zu übertragen. Ins Stolpern und Schwanken bringt einen die monumentale Bodenarbeit „Float“, ein Teppich aus Seilen, Leinwand und Papier. Und ebenso die abschließende Arbeit „Niagara“ von 2005, in der die Kamera dem jungen Schwarzen Melvin folgt, der einen Boulevard in Los Angeles entlangläuft, ohne sich das Recht auf freie Bewegung zu nehmen.

„Keep Walking“ hat den Effekt einer ungeheuren Sensibilisierung. Wenn in den Rieckhallen darauf das „Museum in Bewegung“ mit zehn großen Arbeiten teils aus der Sammlung des Hauses, teils aus den Ankäufen des Bundes auftritt, wirkt diese Durchlässigkeit noch eine Weile nach. Die Arbeiten von Florian Slotawa, Haegue Yang, Kader Attia oder Rebecca Horn entfalten ungewohnte Seiten, man schiebt das Gewohnte zur Seite und ist empfänglich für Anderes.

Deutlich wird dies vor den schwarz-weißen Fotorafien der Serie „Apokryphen“ von Ricarda Roggan. Deren Bilder beschäftigen sich mit Marginalien aus den Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten. Was man sonst nicht sieht, weil es im großen Leben keine Rolle spielte. Das kleine, antike Paar Füße etwa, das Johann Friedrich Seume im 18. Jahrhundert als Briefbeschwerer benutzt hat. Ihre Schutzlosigkeit und Fragilität rühren einen ganz seltsam an.

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