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Putin schickt Drohnen in EU-Luftraum: „Alles deutet darauf hin, dass Russland die Nato-Luftverteidigung testet“
Erstmals seit Beginn des Ukrainekriegs sind russische Drohnen in Polen abgeschossen worden. Militärexperte Carlo Masala erklärt, was Putin mit dieser Eskalation bezwecken könnte.
Stand:
Das Oberkommando der polnischen Streitkräfte sprach am Mittwochmorgen von einem „Akt der Aggression“, von einer „realen Bedrohung für die Sicherheit der Bevölkerung“. Polens Ministerpräsident Donald Tusk verurteilte die „groß angelegte Provokation“.
Deutschlands östlicher Nachbar ist in Aufruhr – denn erstmals seit Beginn des Ukrainekriegs ist eine größere Anzahl russischer Drohnen auch in den Luftraum des EU- und Nato-Landes eingedrungen. Angaben aus Warschau zufolge wurde der Abschuss von drei feindlichen Flugobjekten durch die polnische Luftabwehr bestätigt, möglicherweise sei auch ein viertes getroffen worden. Auch das hat es vorher so nie gegeben.
Insgesamt registrierte die Armee „mehr als ein Dutzend“ russischer Drohnen, Premier Tusk sprach später von mindestens 19 Luftraumverletzungen, die sein Land über mehrere Stunden hinweg in der Nacht erlitten habe. Vier Flughäfen stellten vorübergehend den Betrieb ein. Noch am Vormittag beantragte die Regierung in Warschau ein Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags, also Beratungen mit den anderen Bündnispartnern.

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Ersten Erkenntnissen zufolge wurde zwar niemand verletzt, die Schäden scheinen überschaubar zu sein. Im ostpolnischen Dorf Wyryki soll das Dach eines Wohnhauses von Trümmern einer abgeschossenen Drohne getroffen worden sein, auch unweit des Ortes Czosnowka wurde laut Polizei ein abgestürztes Geschoss gefunden.
Moskau testet wohl die Nato-Abwehr
Doch die Lage ist dramatisch – und die Verunsicherung groß. War das ein erster gezielter Angriff Russlands auf Nato-Gebiet? Wie geht es jetzt weiter? Könnte gar der Nato-Bündnisfall, der berühmte Artikel 5, ausgelöst werden?
Zumindest mit Blick auf die letzte Frage gibt Militärexperte Carlo Masala schnell Entwarnung. „Nein, Russland testet hier nicht den Artikel 5“, sagt er dem Tagesspiegel. „Der Vorfall vergangene Nacht entspricht nicht den Kriterien, die einen Bündnisfall auslösen. Dafür bräuchte es mehr Systematik und Nachhaltigkeit.“
Grund zur Sorge besteht laut Masala dennoch: „Momentan deutet alles darauf hin, dass Russland die Nato-Luftverteidigung testet“, erklärt er – auch wenn vieles noch unklar und abschließende Bewertungen erst dann möglich seien, wenn mehr Informationen vorlägen. „Die Russen spekulieren offenbar darauf, dass die Polen ihre Luftverteidigung anschmeißen und dass die Nato reagiert – und so können sie sich anschauen, wie das ganze System funktioniert.“
Moskau dementiert gezielten Angriff
Militär- und Sicherheitsfachleute warnen immer wieder davor, dass Kremlchef Wladimir Putin, der bereits seit mehr als dreieinhalb Jahren einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, diesen irgendwann auch auf Nato-Gebiet ausweiten könnte. Das Austesten westlicher Verteidigungsfähigkeiten könnte dafür als Vorbereitung dienen.
Das russische Verhalten wird – wenn es denn wirklich der Versuch war, die polnische Luftverteidigung zu testen – immer risikoreicher und rücksichtsloser.
Carlo Masala, Militärexperte
Der Kreml wollte den Zwischenfall in Polen auf Nachfrage von Journalisten nicht kommentieren. Russlands Verteidigungsministerium teilte wenig später mit, man habe in der Nacht Objekte in der Ukraine, nicht aber in Polen ins Visier genommen.
Doch nicht nur in Warschau ist man sich sicher, wer hinter der Attacke steckt. Laut der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas handelte es sich um die „schwerwiegendste Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland seit Beginn des Krieges“. Und: Es gebe „Hinweise, dass sie absichtlich erfolgte und nicht versehentlich“. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte in einer Rede vor dem Europäischen Parlament, die Geschosse seien bereits als Drohnen vom iranischen Bautyp Shahed identifiziert worden – eine Drohnenart, die Russland in der Ukraine massenhaft einsetzt.

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Wie sollte Europa reagieren?
Zwar ist es nicht das erste Mal, dass Polen als direkter Nachbar der Ukraine den russischen Angriffskrieg ebenfalls zu spüren bekommt. Immer wieder ließ das osteuropäische Land bei russischen Luftschlägen gegen die Ukraine zur Überwachung eigene Kampfjets aufsteigen. Ende 2022 schlugen zudem Raketentrümmerteile in Ostpolen ein und töteten zwei Männer.
Dennoch sieht Carlo Masala eine deutliche Verschärfung der Lage: „Damals handelte es sich um Trümmer von ukrainischen Luftabwehrraketen, die ihr Ziel verfehlten und auf polnisches Territorium stürzten“, erklärt er.
Auch vereinzelte Drohnenabstürze in den vergangenen Wochen – eine zerschellte etwa Mitte August auf einem Maisfeld im Gebiet Lublin – seien mit den jüngsten Ereignissen kaum vergleichbar. „Deren Anzahl war kleiner, was darauf hindeutet, dass auch die eher übers Ziel hinausgeflogen sind“, sagt der Experte. Davon dürfte dieses Mal eher nicht auszugehen sein. „Das russische Verhalten wird – wenn es denn wirklich der Versuch war, die polnische Luftverteidigung zu testen – immer risikoreicher und rücksichtsloser.“
Wie aber sollten Europa und die Nato nun reagieren? Eine militärische Reaktion hält Masala für nicht realistisch, dafür sei die Allianz in dieser Frage zu unwillig und uneinig. „Aber es braucht jetzt eine sehr klare diplomatische Antwort“, meint er. „Und die kann nur darin bestehen, dass an der Sanktionsschraube nochmal gedreht wird.“ Eine Möglichkeit, fügt er hinzu, wären Strafmaßnahmen gegen Länder, die russisches Öl importieren.
Viele Polen jedenfalls dürften sich eine entschlossene Reaktion wünschen. Denn die Gefahr ist aus ihrer Sicht höchstens für den Moment gebannt. Bereits an diesem Freitag startet im benachbarten Belarus das große russisch-belarussische Militärmanöver „Sapad“. Polens Verteidigungsministerium erklärte, man rechne dann mit erneuten Zwischenfällen.
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