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Letztes Jahr öffnete die EU innerhalb kürzester Zeit die Grenzen für ukrainische Geflüchtete.

© AFP / AFP/Angelos Tzortzinis

Ein Jahr offene Grenzen für die Ukraine: Warum es keine Zeitenwende in der Migrationspolitik gab

Am 4. März 2022 entschied Europa: Alle ukrainischen Flüchtlinge dürfen kommen. Einen Wechsel der Migrationspolitik hat der Tag nicht eingeleitet.

Ihr deutscher Name ist hässlich, aber sie hat innere Werte: Die europäische „Massenzustromrichtlinie“, die vor genau einem Jahr zum ersten Mal „aktiviert“ wurde, wie es verwaltungstechnisch hieß.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war gerade zehn Tage alt, da verkündete die EU, dass alle, die sich vor dem Krieg in einem Staat der Union in Sicherheit bringen müssten, willkommen seien.

Sie mussten kein Asylverfahren durchlaufen, konnten sofort Arbeit aufnehmen und sich in der gesamten EU frei bewegen. In Deutschland bekamen sie Grundsicherung. Die Richtlinie gab es zwar schon seit 2001, als Konsequenz aus den Balkankriegen, aber nun wurde sie zum ersten Mal praktisch und real.

Auf einmal öffnete die EU die Grenzen

Europa war seit Jahrzehnten zerstritten darüber, ob und wie viel Einwanderung es will, wer als Flüchtling Schutz genießen soll.

Auf einmal öffnete die EU die Grenzen. Und zwar für mehr Menschen und in viel kürzerer Zeit als in der sogenannten Flüchtlingskrise 2014/15. Seit Februar 2022 wurden allein in Deutschland mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine registriert.

Die Europäische Union hat größtmögliche Solidarität gezeigt.

Hans Vorländer, Vorsitzender des Sachverständigenrats Integration und Migration

Damit habe „die Europäische Union größtmögliche Solidarität gezeigt“, urteilt Hans Vorländer, der Vorsitzende des Sachverständigenrats Integration und Migration, des „Rats der Weisen“ der Bundesregierung in Einwanderungsfragen.

Dieses „wichtige Zeichen“ habe „deutlich gemacht, dass Europa zusammensteht“. Deutschland habe erstmals einen Rechtskreiswechsel ermöglicht, als es die Ukrainer:innen im Juni vergangenen Jahres anerkannten Asylsuchenden gleichstellte.

Auch die Integration der Geflüchteten habe es enorm erleichtert, dass sie kein langwieriges Asylverfahren durchliefen, sondern gleich Sprachkurse belegen und Arbeit suchen konnten. Natürlich, so Vorländer, bleibe viel zu tun.

Nie wieder 2015? Der Rekord wurde übertroffen

Die Kommunen, denen das Personal fehle, brauchten Hilfe, um jene „multiplen Krisen“ zu bewältigen, die sie schon vor der großen Flucht belasteten: Mangel an Wohnungen, Kitaplätzen, Lehrkräften. „Aber Ungeduld ist hier nicht angebracht“, sagt der Migrationsfachmann. „Im Moment wird eine Mammutaufgabe erledigt.“

Die Aktivierung der europäischen Richtlinie wurde vor einem Jahr als richtiger Schritt begrüßt – ein notwendiger war sie ohnedies, denn ukrainische Staatsbürger:innen kamen sowieso ohne Visa in die EU. Aber war sie auch, wie damals ab und an zu hören, die Zeitenwende in der Einwanderungspolitik?

Olaf Kleist ist skeptisch. Einerseits sieht er, dass, vieles so gut bewältigt wurde, dass „ein Signal gesetzt wurde: Wir können’s doch.“

Es gab die Strukturen von 2015, die Zivilgesellschaft, damals wie diesmal mit einer riesigen Hilfsbereitschaft, war sofort wieder aktiv, auch die Kommunen und Verwaltungen mussten 2022 nicht in den Notfallmodus gehen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge war entlastet, weil die Leute keine Verfahren durchlaufen mussten.“

Schutz wird ein Zugeständnis, statt ein Recht zu sein. Der Zugang zu Rechten macht aber Demokratie aus.

Olaf Kleist, Politikwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung

Und, auch das hält Kleist für wesentlich: „Mehr EU-Staaten waren beteiligt.“ Er verweist auf das bisher auf Abwehr bedachte Polen, das nach dem Angriff Russlands mehr Menschen aufnahm als Deutschland. „Jahrelang hörte man: 2015 darf sich nicht wiederholen. Und dann wird 2015 sogar übertroffen.“

Schutz nur für Flüchtlinge, denen man sich nahe fühlt

Kleist sieht den 4. März 2022 dennoch nicht als wirklichen Einschnitt, im Gegenteil: Vor einem Jahr habe sich lediglich eine schon ältere Tendenz der europäischen Flüchtlingspolitik verstärkt: „Vom Asylrecht wechseln wir zu einem politisierten Flüchtlingsschutz. Man sucht sich Gruppen, über humanitäre Aufnahmeprogramme oder, wie im Falle der Ukraine, solche, denen man sich nah oder für die man eine moralische Verpflichtung fühlt.“

Für alle anderen würden die Grenzen geschlossen. „Das ist für Europa hoch problematisch.“ Schutz werde ein Zugeständnis, statt ein Recht zu sein. „Der Zugang zu Rechten macht aber Demokratie aus.“ Und: „Dieser ideologisierte Flüchtlingsschutz höhlt die Grundlagen des Flüchtlingsrechts aus.“

Der 4. März vergangenen Jahres wird sich daher, so meint Kleist, nicht so rasch wiederholen. Dass dieses gute Beispiel eine neue Politik einleitet, glaubt er nicht und verweist auf den jüngsten EU-Gipfel, bei dem es nur noch um Grenzbefestigung und das Verhindern von Einwanderung ging.

„Lokal funktioniert die Integration, das können alle sehen. Aber um Grenzen wird davon unabhängig debattiert, rein sicherheitspolitisch und ideologisch, die Grenzen werden mit Gewalt verteidigt. Da überwiegt die Angst vor Kontrollverlust, das Gefühl der Unsicherheit die unmittelbare Erfahrung.“ Der alles beherrschende Streit um irreguläre Migration drehe sich um vergleichsweise kleine Zahlen. „Aber er hindert uns daran zu sehen, was wir doch eigentlich gut können“, meint Kleist.

Die EU-Migrationspolitik kam auch 2022 nicht weiter

Nach diesem Jahr, meint Svenja Niederfranke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, könne sich Europa „auf die Schultern klopfen“: „Wir haben es geschafft, Millionen von Ukrainer:innen unterzubringen, weil der politische Wille da war.“ Selbst Polen habe nahezu klaglos mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen.

Aufnahmekapazität ist keine statische Zahl, die einfach zu berechnen ist, um eine jährliche Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern festzulegen.

Svenja Niederfranke, Forscherin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

„Dies zeigt eins ganz klar: Aufnahmekapazität ist keine statische Zahl, die einfach zu berechnen ist, um eine jährliche Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern festzulegen“, sagt die Forscherin. „Sondern sie steht und fällt mit politischem Willen und öffentlicher Unterstützung.“

Die „bittere Lektion“ freilich sei, dass Europa seither keine Fortschritte in der Migrationspolitik gemacht habe. Die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten sei im letzten Jahr nur schleppend voran gekommen – was die Beschlüsse des jüngsten Europäischen Rats vom 9. Februar zeigten: Wieder solle das Schleuserwesen bekämpft, der Grenzschutz verstärkt werden und die Zusammenarbeit mit den Ländern verbessert werden, aus denen Migrant:innen kommen oder die sie durchqueren.

Von „Partnerschaften im beiderseitigen Interesse“ ist die Rede, sagt Niederfranke. „Jedoch folgte auf dieses Buzzword wenig Konkretes.“ Auch die Reform des Europäischen Asylsystems sei kaum weitergekommen, die Verhandlungen stocken.

Nach der erfolgreichen Aufnahme der vielen ukrainischen Geflüchteten sei zwar aus Brüssel zu hören, dass die Gespräche über Migration atmosphärisch besser geworden seien, aber: „Verantwortungsteilung und Solidarität sind weiterhin ungeklärt.“

Auch Niederfranke hat wenig Hoffnung, dass die Massenrichtlinie Schule machen wird und ein funktionierendes EU-Asylsystem entsteht: „Im Gegensatz zur Unterbringung von Ukrainer:innen fehlt hierfür der politische Wille in den Mitgliedsstaaten.“

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