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Für Polen hat Auschwitz mehr als nur eine Bedeutung.

© REUTERS/Kacper Pempel

Ein Leid gegen das andere?: Wie sich Polens Gedenken um Auschwitz wandelt

Auschwitz ist weltweit das wichtigste Symbol für den Holocaust – den deutschen Völkermord an den europäischen Juden. Für die Menschen in Polen ist es aber noch mehr als das.

Von Jacek Lepiarz

Stand:

Wer Auschwitz hört, denkt an den Holocaust: den deutschen Völkermord an den europäischen Juden. In Polen steht Auschwitz aber noch für etwas anderes: das polnische Märtyrertum unter der deutschen Besatzung 1939-1945.

Diese Doppelbedeutung des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers wurde in der Vergangenheit immer wieder politisch missbraucht, führte zu innenpolitischen und internationalen Missverständnissen und Spannungen.

Der Reichsführer SS Heinrich Himmler befahl im April 1940, in der Stadt Oświęcim, umgetauft in Auschwitz, im besetzten Polen ein Konzentrationslager einzurichten. Das Stammlager, als Auschwitz I bekannt, wurde zur Haftstätte für polnische politische Gefangene. Es handelte sich dabei vor allem um Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung. 

140.000
nicht-jüdische Polen waren in Auschwitz eingesperrt.

Unter den mehr als 700 Häftlingen, die am 14. Juni 1940 mit dem ersten Transport ins Lager verschleppt wurden, befand sich auch Stanisław Ryniak. Der damals 24 Jahre alte Student wurde wegen konspirativer Tätigkeit gegen die deutschen Besatzer in Südostpolen verhaftet. Im September 1940 traf es den späteren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski.

1940 entstand das Stammlager Auschwitz I.

© REUTERS/AXEL SCHMIDT

Bis zum Kriegsende waren in Auschwitz I 130.000 bis 140.000 nicht-jüdische Polen eingesperrt – etwa die Hälfte wurde ermordet oder starb an Hunger und Krankheiten.

Lange standen die polnischen Opfer im Vordergrund

Erst zwei Jahre später entstand im drei Kilometer entfernten Dorf Birkenau das Vernichtungslager Auschwitz II, zu dem auch Vergasungsanlagen und Krematorien gehörten. Es wurde zum zentralen Ort des Holocausts. 

Dort befanden sich das Torhaus über dem Eisenbahngleis und die Selektionsrampe, an der SS-Arzt Josef Mengele über Leben und Tod der Verschleppten entschied. In beiden Lagern starben mindestens 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen waren Juden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellten die kommunistischen Herrscher die polnischen Opfer in den Vordergrund ihrer Erinnerungspolitik. Die jüdische Identität der Toten wurde marginalisiert oder ganz verschwiegen. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, die 1947 auf dem Gelände des befreiten Lagers errichtet wurde, bekam den offiziellen Namen „Denkmal des Märtyrertums der polnischen Nation und anderer Nationen“.

Die Polen haben Angst, dass fremdes Leid ihr eigenes Leid schmälert.

Paweł Śpiewak, polnischer Soziologe

In den im Museum angebotenen Informationsbroschüren war von den 26 Opfernationen die Rede – an erster Stelle wurden Polen genannt, die Juden standen ganz am Ende. Auch in anderen ehemaligen Vernichtungslagern wie Treblinka oder Sobibor, wo ausschließlich jüdische Opfer massenhaft ermordet wurden, war von „polnischen“ Opfern die Rede. 

Der bekannte Eingang ins Konzentrationslager ist der von Auschwitz II, der zum zentralen Ort der Nazi-Verbrechen wurde.

© IMAGO/Shotshop

Die Polen hätten „Angst, dass fremdes Leid ihr eigenes Leid schmälert“, schrieb vor Jahren der Soziologe Paweł Śpiewak. Die „Konkurrenz der Opfer“ warf jahrzehntelang einen langen Schatten auf die polnisch-jüdischen Beziehungen. Es war die Gewerkschaft „Solidarność“, die in den 1980ern Schritt um Schritt begann, mit dem Tabu zu brechen.

Erst nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft 1989 begann dann die demokratische Regierung mit der Aufarbeitung der „weißen Flecken“ in den polnisch-jüdischen Beziehungen.

Mehr als eine Million Menschen starben in Auschwitz.

© REUTERS/Kacper Pempel

Das Museum Polin in Warschau, das von der 1000-jährigen Geschichte der Juden in Polen erzählt, ist ein Beweis für diese neue Einstellung. Auch schwierige Themen wurden öffentlich thematisiert, etwa antijüdische Ausschreitungen nach Kriegsende 1946 in Kielce mit 37 Toten.

Eine Wende in der Erinnerungspolitik

Die Holocaust-Problematik fand breiten Eingang in die Schulprogramme. Die Regierung billigte 2000 das Programm zum Unterricht über die Geschichte und Vernichtung der Juden. Seit 2003 existiert ein mehrmals aktualisiertes Handbuch als Hilfe für die Lehrer. 

Seine aktuelle Ausgabe, seit vergangenem Jahr auf dem Markt, berücksichtigt den letzten Stand der Holocaust-Forschung. Die Autoren zeigen das ganze Spektrum des Verhaltens der Polen gegenüber den Juden – von der heroischen Hilfe, die oft mit dem Tod der Helfer und ihrer Familien endete, bis zu Erpressung, Verrat und Mord an jüdischen Mitbürgern.  

43
Prozent der Polen sehen Auschwitz 2020 als zentralen Ort des Holocausts.

Die Veränderungen in den Köpfen der Menschen brauchen Zeit. 1995 sahen nur acht Prozent der Polen Auschwitz als zentralen Ort des Holocausts an. 2020 teilten diese Meinung bereits 43 Prozent der Befragten. „Das ist eine Wende“, meint Marek Kucia von der Jagiellonen-Universität in Krakau. Er hatte die Umfrage beauftragt. Die Hälfte der Polen sieht Auschwitz gleichzeitig weiterhin als zentralen Ort des Leidens der polnischen Nation.

Vergisst Deutschland die polnischen Opfer?

Die demokratische Wende beendete aber nicht nur alte Konflikte, sie schuf auch Raum für neue. In den 1990ern wurde Oświęcim zum Schauplatz eines religiös motivierten Streits. In der Kiesgrube in der Nähe des Stammlagers stellten die Katholiken ein acht Meter hohes Holzkreuz auf, um die dort hingerichteten Häftlinge zu ehren.

Dagegen protestierten jüdische Organisationen: Sie sahen darin eine Entehrung der Shoah-Opfer. Erst die Vermittlung des Papstes Johannes Paul II. konnte den Konflikt entschärfen.

In der Debatte um Auschwitz werfen viele Polen den Deutschen vor, dass sie sich in ihrer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fast ausschließlich auf den Holocaust konzentrierten und den Leid der nicht-jüdischen Polen außer Acht ließen. Die polnischen Kriegsopfer fehlten im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, hieß es oft in Warschau.  

Opfergruppen suchen heute eher das Verbindende als das Trennende.

Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees

Vielleicht deshalb reagiert man in Polen sehr empfindlich auf alle Berichte aus Deutschland, in denen von der Mittäterschaft polnischer Bürger am Holocaust die Rede ist.

Auch der manchmal in den deutschen Medien auftauchende Begriff „polnisches Konzentrationslager“ in Bezug auf Auschwitz und andere Lager stößt auf heftige Proteste – und endet manchmal gar vor Gericht. Kritiker sehen darin eine gezielte Aktion, die Schuld der Deutschen zu relativieren.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte Auschwitz 2019.

© REUTERS/Kacper Pempel

Auch die Verwendung des Wortes „Nationalsozialisten“ statt „Deutsche“, wenn es sich um Kriegsverbrecher handelt, soll nach Meinung vieler Polen die Deutschen entlasten. 

Dieses Problem haben inzwischen auch die deutschen Spitzenpolitiker anerkannt. Es sei ein „deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager“ gewesen, betonte Kanzlerin Angela Merkel 2019 beim Besuch der Gedenkstätte.    

Seit Jahrzehnten engagieren sich Menschen in Deutschland für die Verständigung mit ihren polnischen Nachbarn. Einer von ihnen ist Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Als Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste besucht er seit 1970 die ehemaligen deutschen KZs in Polen, um bei der Renovierung zu helfen und den deutschen Jugendlichen das Wissen über die deutschen Verbrechen zu vermitteln.

Die Opfergruppen, sagt Heubner, suchen angesichts der wachsenden Gefahr des Rechtsextremismus dagegen eher „das Verbindende als das Trennende“. Auschwitz-Überlebende sagten: „Wir gehören doch zusammen, wir lassen uns nicht auseinandertreiben.“

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