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Selbst Deutschland rückt ab: Netanjahus hochriskanter Gaza-Plan schadet allen – auch Israel
Der Gaza-Krieg wird ausgeweitet. Israels Premier schwenkt endgültig auf den militanten Kurs der Koalitionspartner ein. Damit verprellt er jetzt sogar den Verbündeten Deutschland.

Stand:
Israels politische Führung macht Ernst. Sie will den Krieg gegen die Hamas ein weiteres Mal verschärfen – und das deutlich. Am Donnerstagabend hat das Sicherheitskabinett entschieden, Gaza-Stadt komplett einzunehmen.
Zuvor hatte Israels Premier Benjamin Netanjahu noch erklärt, man wolle den Küstenstreifen vollständig erobern. Ist der jetzt von der Regierung verkündete Einsatzplan ein Rückzieher? Höchstwahrscheinlich nicht.
Zu den „fünf Prinzipien“ für das künftige Vorgehen der Armee gehört nämlich, das Territorium vollständig unter militärische Kontrolle zu bringen und alle Hamas-Terroristen zu entwaffnen.
Diese Ziele können, wenn überhaupt, nur erreicht werden, indem ganz Gaza unter Kontrolle gebracht wird. Das weiß auch Netanjahu. Er hat es gerade erst in einem Interview mit dem US-Sender Fox genau so formuliert.
Das hieße im Klartext: Der jüdische Staat wird für längere Zeit zur Besatzungsmacht über ein Gebiet, das nach bald zwei Jahren Krieg nur noch aus Trümmern, Hunger und Leid besteht.
Großisrael und Größenwahn
Die militanten Siedler und rechtsextremen Minister, die sich wie Kolonialherren aufführen, sehen ihre Annexionswünsche für ein Großisrael Wirklichkeit werden. Am besten, das Westjordanland wird gleich mit einverleibt.
In ihrer teils hasserfüllten Welt des Größenwahns ist kein Platz für Palästinenser – und Netanjahu schwenkt endgültig auf deren Kurs ein. Allen Bedenken zum Trotz.
Mit einer außergewöhnlichen Aktion haben zum Beispiel alle früheren Geheimdienstchefs erst vor wenigen Tagen davor gewarnt, den Feldzug in Gaza fortzusetzen. Auch Generalstabschef Ejal Zamir sieht das so.

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Weil die Hüter der Sicherheit sich einig sind, dass von der Hamas keine ernsthafte Gefahr mehr ausgeht. Sie warnen vielmehr: Die erneute Ausdehnung des Krieges bedeute letztendlich, die von der Terrorbande am 7. Oktober 2023 verschleppten Geiseln aufzugeben.
Lebensgefahr für die Geiseln
Denn bislang hat die Armee ein kleines Gebiet in Gaza gemieden, weil dort die Entführten vermutet werden. Ändert sich das, ist das Leben der Geiseln in großer Gefahr – entweder könnten die wenigen noch Lebenden von der Hamas getötet werden oder den Gefechten zum Opfer fallen.
Hinzu kommt: Die Ausweitung der Kampfzone wird dem Drama in Gaza ein weiteres unmenschliches Kapitel hinzufügen. Noch mehr Frauen, Kinder und Männer werden zu Heimatlosen, die seit Monaten weder ein noch aus wissen. Noch mehr Opfer werden zu beklagen sein.
Israels Premier ist ein Gefangener seiner radikalen Koalitionspartner.
Christian Böhme
Die Wut nach dem Terrorangriff der mörderischen Hamas ist mehr als verständlich. Welches Land würde eine solche Attacke nicht sühnen wollen? Auch steht außer Frage, dass die Islamisten das Schicksal des eigenen Volkes auf abstoßende Art und Weise für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Ihre Waffen wollen sie nicht abgeben, dabei wäre dies die Grundlage für eine Waffenruhe, die sowohl ein kriegsmüdes Israel als auch die ausgelaugten Streitkräfte herbeisehnen.

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Netanjahus verkappter Besetzungsplan verstärkt allerdings den Eindruck, dass die Palästinenser mit Gewalt ihrer Lebensgrundlage beraubt werden sollen. Sogar Israels wohlmeinendste Verteidiger werden dafür schwerlich stichhaltige Argumente finden.
Der kompromisslose Kriegsherr
Das Land gerät immer mehr ins Abseits. Selbst Deutschland, zu Recht aufgrund der Geschichte ein treuer Verbündeter, dürfte kaum umhinkönnen, gegenüber der Regierung in Jerusalem eine härtere Gangart einzuschlagen. Das tut Kanzler Friedrich Merz seit Freitag mit einer deutlichen Einschränkung der Waffenexporte. Es ist Ausdruck großen Unmuts.
Das alles scheint Netanjahu nicht zu kümmern. Er gibt unbeirrt den Kriegsherren, der nicht gewillt ist, Kompromisse einzugehen. Vor allem, weil der Premier ein Gefangener radikaler Koalitionspartner ist, sein politisches Überleben von ihrer Gunst abhängt.

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Deshalb lässt er sie in ihrer Hybris gewähren, über andere herrschen zu wollen. Sein eigenes Wohlergehen stellt der Ministerpräsident damit über das Wohl seines Landes. Und über das der vielen hilf- und schutzlosen Menschen in Gaza.
Es droht ein Guerillakrieg
Zweifellos ist Israel militärisch in der Lage, den ganzen Küstenstreifen einzunehmen. Jedoch scheint es fatalerweise nach wie vor keinen langfristigen Plan zu geben für das Danach. Dass Netanjahu nun „arabische Kräfte“ in die Pflicht nehmen will, wird an deren Unwillen scheitern, Israels Schutz zu gewährleisten.
Sollen am Ende alle Palästinenser verschwinden und an ihre Stelle jüdische Siedler treten? Das wird gewaltsamen Widerstand hervorrufen. Israel drohte dann ein verlustreicher und zermürbender Guerillakrieg.
Um die immens hohen Kosten einer Besatzung wusste schon Ariel Scharon. Vor genau 20 Jahren entschied der damalige Premier, die Soldaten aus dem Küstenstreifen abzuziehen und die jüdischen Siedlungen aufzugeben. Der Aufwand übersteige den strategischen Wert des Gebiets.
Hardliner Scharon tat dies nicht aus Nächstenliebe gegenüber den Palästinensern. Er befürchtete vielmehr, der demokratische Unterbau des jüdischen Staates würde durch die Besatzung Schaden nehmen. Das scheint Netanjahu billigend in Kauf zu nehmen.
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