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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßt Ursula von der Leyen.

© dpa/Efrem Lukatsky

Erster EU-Gipfel in Kriegsgebiet : Was Kiew wünscht – und bekommt

Die Reise nach Kiew führt 16 Kommissare außerhalb ihrer Komfortzone. Und die Ukraine erfährt, wie weit der Wunsch nach schnellem Beitritt von den Brüsseler Realitäten entfernt ist.

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Es ist der erste EU-Gipfel in einem Kriegsgebiet. In Kiew treffen zwei Welten aufeinander bei den zweitägigen Gesprächen der 16 angereisten Kommissarinnen und Kommissare sowie des Ratsvorsitzenden mit der ukrainischen Regierung.

Es ist durchaus die Frage, welche Seite den größeren Realitätsschock zu verarbeiten hatte: Präsident Wolodymyr Selenskyj, der die nackte Not managen muss und auf einen zügigen Beitritt seines Landes zur EU hofft, aber mit den Arbeitsabläufen und Prozeduren komplexer Entscheidungsabläufe eines mächtigen Apparats konfrontiert wird? Oder die Gäste aus Brüssel, die unter völlig anderen Bedingungen als sonst konferieren und auf Hilfsanfragen treffen, die im EU-Alltag bisher kaum eine Rolle spielen, voran die Details der militärischen Lage und potenzieller Waffenhilfe?

Raus aus der Komfortzone: Das galt schon für die Umstände der Vorbereitung. Anreise per Bahn in der Nacht zu Donnerstag statt zeitsparend mit dem Flugzeug. Gepäckvorgabe: am besten Rucksack, Kabinenkoffer vermeiden. Kleidung: kein Khaki oder Oliv, sondern Anzug oder andere Geschäftskleidung, möglichst in hellen Tönen. Der Militärlook ist den Gastgebern vorbehalten.

In Brüssel bleibt ein „designated survivor“

In Brüssel blieb ein „designated survivor“ zurück, wie man das sonst aus den USA kennt, für den Fall, dass die Umstände den Großteil des Regierungsteams arbeitsunfähig machen: Frans Timmermans, Vizepräsident der Kommission. Als Zuständiger für Klimaschutz und den Green Deal der EU war er fachlich in Kiew entbehrlich.

Ursprünglich hatten nur Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rats, der die Regierungen der EU-Staaten vertritt, reisen sollen. Das stieß auf Kritik. Ein Solidaritätsbesuch der EU-Spitze habe zwar symbolisches Gewicht. Aber besser sei ein Arbeitstreffen mit den Zuständigen für die Prioritäten der Ukraine: Sicherheitspolitik (Josep Borrell), Energie (Kadri Simson), Wirtschaft (Paolo Gentiloni), Haushaltsmittel (Johannes Hahn) – und natürlich müsse der Kommissar für die EU-Erweiterung, Olivér Várhelyi, dabei sein. Am Ende fuhren noch einige mehr.

Für den dringlichsten Wunsch Kiews, die Aussicht auf raschen Beitritt, gab es schon vor dem Gipfel einen Dämpfer. Regierungschef Denys Schmyhal hatte eine Frist von zwei Jahren genannt. Im Entwurf der für Freitag geplanten Abschlusserklärung wird das Ziel nicht mal erwähnt. Es ist auch unrealistisch.

Ursula von der Leyen und Charles Michel wetteiferten geradezu, wer den Ukrainern beim EU-Beitritt weiter entgegenkommt.

Insider aus dem EU-Apparat in Brüssel

Aber vielleicht findet sich bis Freitag eine Formulierung, die ukrainische Hoffnungen befriedigt, ohne die Wirklichkeit zu ignorieren. Brüsseler Insider lästern, von der Leyen und Michel wetteiferten geradezu, wer den Ukrainern beim EU-Beitritt weiter entgegenkomme. Mehrere ukrainische Korruptionsskandale haben die Skepsis erhöht, in welchem Tempo das Land die nötigen Reformen vorantreiben kann.

Selenskyj und von der Leyen beim Gipfel in Kiew.

© dpa

Als gesichert gelten zwei andere Ziele des Gipfels. Eine Vereinfachung des Warenverkehrs und die Einrichtung eines Internationalen Zentrums für die Verfolgung von Kriegsverbrechen und der Straftat der Vorbereitung eines Angriffskriegs in Den Haag.

Die EU und ihre Mitglieder haben der Ukraine bereits Waffen und militärische Ausrüstung im Wert von 11,5 Milliarden Euro gegeben. In diesem Jahr will die Gemeinschaft weitere 18 Milliarden Euro Finanzhilfe bereitstellen, damit die Regierung in Kiew Löhne und Renten zahlen und öffentliche Einrichtungen wie zum Beispiel Krankenhäuser am Laufen halten kann. Nach Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft leisten die USA militärisch und finanziell mehr Ukrainehilfe als die EU.

„Schön, wieder in Kiew zu sein“, twitterte von der Leyen mit einem Ankunftsbild vom Bahnhof. „Wir sind hier zusammen, um zu zeigen, dass die EU der Ukraine fest zur Seite steht.“ Für sie ist es der vierte Besuch in der Ukraine seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022, für die meisten anderen Mitglieder der Delegation war die mühsame Anreise eine Premiere.

Eine Neuerung ist freilich auch, dass die Reise vier Wochen zuvor angekündigt worden war. Mit Blick auf das Sicherheitsrisiko waren so hochrangige Besuche bisher geheimgehalten worden, um potenzielle Anschlagspläne zu erschweren. Experten halten diese Gefahr mit Blick auf EU-Vertreter für begrenzt. „Der Kreml kennt keine roten Linien. Aber noch ist Putin nicht zu einer solchen Eskalation bereit“, sagt der frühere ukrainische Außenminister Pavlo Klimkin.

Ralf Fücks, Gründer der Denkfabrik Zentrum Moderne Liberale in Berlin, meint: „Trotz aller Skrupellosigkeit und Unberechenbarkeit Wladimir Putins: Er wird es kaum wagen, die EU-Spitze anzugreifen. Das wäre eine offene Kriegserklärung an die EU und die Nato. Und das ist das Letzte, was er brauchen kann.“

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