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Finnlands Ex-Regierungschefin veröffentlicht Memoiren: Sanna Marin über Krieg, Seuche und Skandalvideos
Sie war Finnlands jüngste Ministerpräsidentin, 2023 trat sie zurück. In ihrer Autobiografie schreibt Marin über Sexismus, extreme Belastungen – und über ein Treffen mit Angela Merkel.
Stand:
Nur drei Wochen nach ihrem 34. Geburtstag schrieb Sanna Marin Geschichte.
Als das finnische Parlament sie am 8. Dezember 2019 zur neuen Ministerpräsidentin wählte, war die Sozialdemokratin nicht nur der jüngste Mensch auf diesem Posten in Finnland, sondern zugleich auch die jüngste amtierende Regierungschefin der Welt.
Keine vier Jahre später war ihre politische Karriere schon wieder vorbei: Nach der verlorenen Parlamentswahl 2023 trat die heute 39-Jährige von sämtlichen politischen Ämtern zurück.
An diesem Mittwoch veröffentlicht sie ihre Memoiren. Auf mehr als 300 Seiten spricht die ehemalige finnische Ministerpräsidentin hauptsächlich über ihre politische Laufbahn. Das macht sie immer detailreich, zuweilen aber auch ziemlich selbstgefällig. Der Privatperson Sanna Marin kommen Lesende dabei kaum viel näher.
Einige Eindrücke von dem, was Leserinnen und Leser erwartet.
1 Die Corona-Pandemie
Nicht einmal ein ganzes Jahr Regierungserfahrung hatte die Sozialdemokratin, als Covid-19 zu einer lebensbedrohlichen Pandemie wurde.
Es sei „die schwierigste aller Herausforderungen“ in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin gewesen. Die ersten Wochen beschreibt Marin als einen überwältigenden Alptraum und „pausenlose“ Arbeit.
Doch sie war erfolgreich: Finnland hatte lange vergleichsweise niedrige Ansteckungsraten und galt als Land, das die Pandemie am besten gemeistert hatte.
Marin und ihre Regierung setzten auf schnelle Gegenmaßnahmen. Fünf Tage, nachdem sie am 16. März den nationalen Notstand ausgerufen hatte, verabschiedete die Koalition fast 20 Einschränkungen und Empfehlungen: „Wir bauten das Floß während der Fahrt“, schreibt Marin mehr als fünf Jahre später.
Mein Stress führte langsam zu körperlichen Symptomen.
Sanna Marin über ihre Arbeitsbelastung während der Pandemie
Für all das zahlte die Finnin einen Preis: „Mein Stress führte langsam zu körperlichen Symptomen.“ Durch die extreme Belastung nahm Marin deutlich ab, hatte Magenbeschwerden und bekam zeitweise Sehstörungen. „Ich konnte weder Texte lesen noch Gesichter erkennen“, schreibt sie.
2 Finnlands Nato-Beitritt
Erholung gab es auch nach der akuten Corona-Herausforderung für Marin kaum. Bereits ein Jahr vor der völkerrechtswidrigen Vollinvasion auf die Ukraine machten der Ministerpräsidentin die „Lage in Russland und die wachsenden Feindseligkeiten“ große Sorge – auch, weil „Finnland wegen seiner einzigartigen geografischen Lage betroffen sein könnte“.
Das Land verbindet eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze zu dem riesigen Nachbarn im Osten, die Erfahrungen des sowjetischen Überfalls im sogenannten Winterkrieg 1939/40 gelten in Finnland als kollektives nationales Trauma.

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Dennoch blickt sie nicht nur kritisch auf die finnisch-russische Geschichte.
„Es ist nicht falsch zu sagen, Finnland habe eine besondere Beziehung zu Russland“, schreibt Marin. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurde das Land – nach 500-jähriger Herrschaft durch Schweden – vom russischen Zaren regiert. „Die finnische Sprache, unsere Kultur und die nationale Identität wurden tatsächlich durch die russische Herrschaft gestärkt.“
Das Zeitalter der Bündnisfreiheit war vorbei.
Sanna Marin über die Lage Finnlands nach Russlands Angriff auf die Ukraine
Doch sowohl durch die imperialistische Sowjetunion als auch Russland wuchs für das junge Finnland die „reale Bedrohung durch unseren aggressiven und viel größeren Nachbarn“.

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Dennoch war auch Marin in nordisch-sozialdemokratischer Tradition lange eine Gegnerin der Nato. Im öffentlich-rechtlichen Wahlomaten vor der gewonnenen Parlamentswahl 2019 „antwortete ich, Finnland soll bündnisneutral bleiben. Das war seit Jahrzehnten unsere Parteilinie“.
Am 24. Februar 2022 – an „jenem fürchterlichen Donnerstagmorgen“, als Russland die Ukraine überfiel, – wusste sie aber nach eigenem Bekunden sofort, was auf Finnland zukam: „Das Zeitalter der Bündnisfreiheit war vorbei.“
3 Angela Merkel
Auch auf die langjährige deutsche Bundeskanzlerin kommt Marin im Buch immer wieder zu sprechen – obwohl beide nur für eine sehr kurze Zeit gleichzeitig Regierungschefinnen waren.
„Ich erinnere mich ganz besonders an meine Reise nach Berlin im Oktober 2021, wo ich kurz nach der deutschen Bundestagswahl Angela Merkel traf“, heißt es im Buch.
Ich erinnere mich vor allem daran, dass sie anscheinend von Putin und Russland im Allgemeinen zutiefst enttäuscht war.
Sanna Marin über Angela Merkel
„Ich hatte bei unserem ersten Treffen mehr Gelassenheit erwartet. Man sollte meinen, dass eine Person am Ende einer dreißigjährigen politischen Karriere ein wenig Erleichterung verspüren würde.“

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Doch die Atmosphäre sei ein knappes halbes Jahr vor dem russischen Angriff auf die Ukraine angespannt gewesen. „Ich erinnere mich vor allem daran, dass sie anscheinend von Putin und Russland im Allgemeinen zutiefst enttäuscht war. Ihre Haltung und ihre Botschaft waren alarmierend“, schreibt Marin. Merkel schien „intuitiv zu ahnen, dass gerade etwas schieflief“.
4 Donald Trump
Über den US-Präsidenten schreibt Marin in ihrem Buch vergleichsweise wenig. Ähnlich wie bei Merkel überschnitten sich die Regierungszeiten beider kaum: Marin wurde Ende 2019 finnische Ministerpräsidentin, Donald Trump im Januar 2020 von dem Demokraten Joe Biden abgelöst.
„Der Erfolg populistischer rechtsgerichteter Parteien ist keine Ausnahme mehr, sondern zunehmend die Regel“, schreibt Marin im letzten Kapitel ihres Buchs.
Und weiter: „Die Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump oder der Vormarsch rechtsextremer Parteien in vielen Ländern Europas sind Weckrufe für all diejenigen, denen Werte wie Gerechtigkeit, Gleichstellung, Nachhaltigkeit und Sozialwesen am Herzen liegen.“
Ich weiß noch, dass ich nervös war, weil Präsident Trump eine unberechenbare Persönlichkeit war (und ist).
Sanna Marin über das erste Treffen mit Donald Trump
Erstmals getroffen hatte Marin den US-Präsidenten in ihrer kurzen Zeit als Verkehrsministerin.
Mit dem in Finnland für Außenpolitik verantwortlichen damaligen Präsidenten Sauli Niinistö reiste sie im Oktober 2019 nach Washington, um über den Verkauf finnischer Eisbrecher zu verhandeln. „Ich weiß noch, dass ich nervös war, weil Präsident Trump eine unberechenbare Persönlichkeit war (und ist).“
Das erste Zusammentreffen endete „ohne Pannen“, eine Vereinbarung zum Kauf finnischer Eisbrecher trafen dagegen erst Marins Nachfolger im Amt, Petteri Orpo, und der aktuelle Präsident Alexander Stubb im vergangenen Jahr.
5 „Skandale“ und Sexismus
Nahezu konsterniert blickt Sanna Marin am Ende des Buches auf zahlreiche vermeintliche Skandale ihrer Regierungszeit zurück – und kritisiert Journalistinnen und Journalisten sowie die Medien scharf.
Die Sozialdemokratin wurde in Bars und Nachtclubs gesichtet, auf Musikfestivals oder bei der Pride-Parade in Helsinki. Es gibt Fotos von ihr in Lederjacke und Jeans-Shorts, beim Tanzen in Privatwohnungen.
Als Politikerin verfolgte sie nach ihren Worten das Ziel, „anders und moderner aufzutreten, um eine politische Karriere für jüngere Leute und vor allem Frauen attraktiver zu machen“.
Medien und politische Gegner arbeiteten sich daran immer wieder ab. Für eine finnische Modezeitschrift ließ sie sich gleich zu Beginn ihrer Amtszeit ablichten – nur mit Blazer und großer Halskette. Außer etwas Haut ist auf dem Bild nicht viel zu sehen, doch „löste es eine riesige öffentliche Debatte aus.“
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Ständig fragten finnische und internationale Medien, ob das für eine Regierungschefin angemessen sei. Die „Bild“ schrieb später über die „wilde Finnland-Chefin“, bei der „Jugend und Politik offenbar doch nicht zu vereinen“ seien.
Das wahre politische Vergehen bestand hier darin, dass ich mit meinem Aussehen und Verhalten nicht dem entsprach, was man von einer Ministerpräsidentin erwartete.
Sanna Marin über den Alltag als Regierungschefin
Im Sommer 2022 wurde die Diskussion in den Medien über ein privates Tanzvideo so heftig geführt, dass Marin sich gezwungen sah, einen Drogentest zu machen. Im Video „tanzte ich recht provokativ, trug weiße Jeans und ein schwarzes Top und sang in der Wohnung meines Freundes“, schreibt sie dazu.
Immer wieder beklagt Marin im Buch die sexistische und moralisierende Berichterstattung: „Das wahre politische Vergehen bestand hier darin, dass ich mit meinem Aussehen und Verhalten nicht dem entsprach, was man von einer Ministerpräsidentin erwartete.“
Ihre Regierungszeit beschreibt Sanna Marin – neben ihr wurden sämtliche Koalitionsparteien von Frauen geführt – als von Sexismus und Misogynie begleitete Jahre. „Mir wurden derart häufig Vergewaltigung und andere Arten von sexueller Gewalt angedroht, dass ich es gar nicht mehr zählen kann.“
Häufig seien ihr Kompetenz und Führungsqualitäten abgesprochen worden. „Zugleich bewertete man unser Verhalten auf moralisierende Weise, wodurch ich mich in Zeiten zurückversetzt fühlte, als Frauen ohne männliche Begleitung keinen Schritt vor die Tür setzen durften“, schreibt sie.
Kaum überraschend widmet Sanna Marin ihr Buch denn auch ihrer Tochter – und allen Mädchen, die die Welt verändern werden.
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