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Almaty / Kazakhstan - 10.01.2018 :  Military tactical exercises. Soldiers of the armed forces and The Russian flag

© IMAGO/Depositphotos/Copyright: xLyazaTretyakovax via

Folgt auf „Phase 0“ der erste Schlag?: Das sagen Experten über einen möglichen Angriff Russlands auf Nato-Gebiet

Analysten meldeten jüngst, dass Russland die „Phase 0“ erreicht habe und Vorbereitungen auf einen Krieg mit Nato-Staaten treffen könnte. Experten sehen das teils kritisch – teils bestätigt.

Stand:

Anfang dieser Woche gaben Analysten der US-amerikanischen Denkfabrik „The Institute for the Study of War“ (ISW) eine Einschätzung ab, die für allerhand Aufsehen sorgt. Wie die geopolitischen Experten in ihrem täglichen Lagebericht zum Ukrainekrieg berichteten, zielten die jüngsten Maßnahmen Moskaus darauf ab, materielle und psychologische Voraussetzungen für einen neuen Krieg zu schaffen.

Demnach habe Russland die Zahl seiner Sabotageaktionen gegen westliche Staaten sowie auch die der gezielten Desinformationskampagnen in den letzten Wochen und Monaten deutlich gesteigert. Hinzu kommt eine maßgebliche Intensivierung russischer Luftraumverletzungen in Nato-Gebieten sowie Drohnenflüge in europäischen Ländern. Die ISW-Analysten sehen darin eine neue Phase russischer Vorbereitungen auf einen möglichen Krieg mit Nato-Staaten.

Das Land unter Kremlchef Wladimir Putin sei demnach in eine „Phase 0“ eingetreten. „Russland hat längerfristige Pläne auf den Weg gebracht, die Teil der Vorbereitungen für einen künftigen Krieg zwischen Russland und der Nato sein könnten“, schreibt das ISW-Forschungsteam. Was sagen andere Experten zu dieser Annahme? Und was folgt auf die „Phase 0“?


Was sagen Experten zur „Phase 0“-These?

Der Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien, Andreas Umland, schätzt die Lage als äußerst komplex ein. Dass Russlands Intensivierung der jüngsten Aktionen als eine Vorbereitungsphase für einen möglichen Krieg mit Nato-Staaten gedeutet werden, sieht er kritisch. „Unter rationalen außenpolitischen Gesichtspunkten würde man das ausschließen, da die Kräfte zu ungleich sind“, sagt der Analyst auf Tagesspiegel-Nachfrage.

Allerdings könnten „irrationale Impulse und innenpolitische Kalkulationen die russische Führung zu weiterer Konfrontation treiben“, schließt Umland an. Das deuten viele Indizien der letzten Zeit an, so der Experte. Demnach seien russische Expansionserfolge immerhin die Stabilitätsanker für Putins Herrschaft.

Sollte der Kremlchef im Rahmen einer Beilegung des Ukrainekriegs dauerhafte Geländegewinner für Russland erzielen, gäbe es die Gefahr weiterer Expansionsanstrengungen. Dann könnte es Umland zufolge „für Russland die Versuchung geben, die bereits militärisch hoch mobilisierte russische Gesellschaft auf ein neues Ziel zu lenken.“

Erfolgstrunken könnte der Kreml der Versuchung erlegen, die Entschiedenheit der Nato an der Grenze zu testen.

Andreas Umland, Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien

Der Geheimdienstexperte an der Brunel University in London, Kevin Riehle, sieht die Lage weniger akut. Dem französischen Nachrichtensender „France 24“ sagte er, dass es Moskau mit den jüngsten Intensivierungen seiner Aktionen eher darum gehe, die Nato vor den möglichen Folgen einer Eskalation zu warnen. Statt konkret eine Offensive zu planen, bietet Russland dem Westen lediglich eine Vorschau darauf, wie ein offener Konflikt mit Moskau aussehen und mit welchen Kosten das verbunden sein könnte, mutmaßt der Experte.

Fazit:

Rational betrachtet ist ein möglicher Angriff Russlands auf Nato-Gebiete also eher unwahrscheinlich, da die Kräfteverteilung zu unausgewogen ist. Andererseits ist Putin unberechenbar und von hohen Expansionsbestrebungen getrieben.


Sind Russlands Aktionen ein Indiz für Kriegsvorbereitungen?

Andreas Umland sieht die neuen Provokationen Russlands in Form von Drohnenflügen in Europa und Luftraumverletzungen von Nato-Gebieten in der derzeitigen US-Politik begründet. Europa könne sich „nicht mehr hundertprozentig“ auf die Unterstützung der USA verlassen. Außerdem sei die Russlandpolitik unter US-Präsident Donald Trump mitunter „konfus“, so der Analyst. Russlands Luftraumverletzungen dienen Moskau demnach als ein probates Mittel, um „Unsicherheit und Uneinigkeit in Nato-Staaten zu schüren“, mutmaßt Umland.

Das untermauert die These des ISW, wonach den westlichen Staaten durch eine regelrechte Flut an in Umlauf gebrachten Falschmeldungen suggeriert werden soll, dass „die Gefahr von Anschlägen in ganz Europa allgegenwärtig ist“. Das ISW und der Osteuropa-Forscher Umland sind sich einig, dass Moskau mit seinen jüngsten Aktionen sowohl die westliche Aufmerksamkeit als auch die europäischen Ressourcen und geplanten Hilfsmittel von der Ukraine ablenken will.

Andere Experten wiederum mutmaßen, dass Moskaus Desinformationskampagnen nicht nur auf die Europäer, sondern auch auf die russische Bevölkerung abzielen. Der Spezialist für russische Propaganda an der Universität Kopenhagen, Jewgenij Golowtschenko, sagte „France 24“: „Das Ziel ist es, den Eindruck zu erwecken, dass eine unmittelbare Bedrohung besteht – beispielsweise durch einen Angriff auf Russen oder Versuche des Westens, Russland zu destabilisieren – die wiederum eine Reaktion erfordert.“ Damit wolle Moskau verdeutlichen, dass man sich der Gefahr stellen müsse – „nicht morgen, sondern heute“, so Golowtschenko.

Russland behauptet immer, in der Defensive zu sein. Es sind immer die anderen, die angefangen haben.

Jewgenij Golowtschenko, Universität Kopenhagen

Der Geheimdienstexperte an der Brunel University in London, Kevin Riehle, schätzt die Lage ähnlich ein. Demnach seien Moskaus Aktionen auch darauf zurückzuführen, dass „Russland sich stets in der Defensive befindet und am Ende immer sagen kann, dass die andere Seite – in diesem Fall die Nato – angefangen hat“, sagte er „France 24“.

Fazit:

Russlands Intensivierung von Drohnenflügen und Luftraumverletzungen sollen in den Nato-Staaten vor allem Unsicherheiten schüren und eine weitere Unterstützung der Ukraine vermindern. Im eigenen Land sollen die Desinformationskampagnen hingegen den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung stärken und das Bild von Russland als Verteidiger (nicht Angreifer) etablieren. Moskaus jüngste Aktionen befeuern nicht nur die europäische Eskalationsangst, sie fördern auch die russische Eskalationslust, vermutet Andreas Umland.


Was könnte Experten zufolge auf die „Phase 0“ folgen?

„Zumindest wird von Russland der Eindruck erweckt, dass es einen Angriff geben kann“, berichtet Umland dem Tagesspiegel. Dem Analysten zufolge will sich Putin wohl die Option offenhalten, mit hybriden militärischen Mitteln gegen Nato-Länder vorzugehen.

Irrationale Impulse und innenpolitische Kalkulationen können die russische Führung zu einer weiteren Konfrontation treiben.

Andreas Umland, Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien

Für Umland gibt es ab hier zwei Möglichkeiten:

  1. Sollte der Ukrainekrieg nicht von Putin gewonnen werden oder nun weiterhin andauern, dann „scheint ein Angriff auf einen Nato-Staat unwahrscheinlich.“ Der Experte führt aus, dass dieses Szenario „für Russland einen Zweifrontenkrieg bedeuten würde.“
  2. Sollte es in der Ukraine aber einen „russischen Siegfrieden“ geben, dann steigt Umland zufolge das Eskalationsrisiko – zunächst vornehmlich im Baltikum. „Erfolgstrunken und militärisch hoch mobilisiert könnte der Kreml der Versuchung erlegen, die Entschiedenheit der Nato an der estnischen oder der litauischen Grenze zu testen“, mutmaßt der Analyst.

Fazit:

Gewinnt Moskau den Ukrainekrieg – oder im Rahmen eines Friedensabkommens ukrainische Gebiete hinzu – dann besteht die Gefahr eines russischen Angriffs auf Nato-Gebiete. Eine solche Eskalation kann nur abgewendet werden, wenn Putin gestoppt wird. Andreas Umland zufolge könne der Expansionsdrang des Kremlchefs nur durch eines nachhaltig gedämpft werden: „Eine sichtbare russische Niederlage in der Ukraine im Zusammenspiel mit einer inneren sozioökonomischen Krise.“

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