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Anhaltende Tarifkonflikte führten in Großbritannien zu landesweiten Streiks am Mittwoch.

© ZUMA Press/Martyn Wheatley

Größter Arbeitskampf seit Jahrzehnten: Verhärtete Fronten in Großbritannien

Die politische Krise in London verschärft sich, wieder demonstrieren 500.000 Menschen. Für Premier Sunak enden die ersten 100 Tage seiner Amtszeit, also wie sie begannen.

Mal waren es die Eisenbahner, mal das Pflegepersonal im Gesundheitswesen und die Sanitäter. Am Mittwoch standen Lehrerinnen im Mittelpunkt der beispiellosen Streikwelle, die Großbritannien seit Monaten erschüttert.

Rund 85 Prozent der Staatsschulen in England und Wales blieben ganz geschlossen oder kümmerten sich lediglich um kleine, kurz vor wichtigen Prüfungen stehende Schülergruppen.

Der konservative Premier Rishi Sunak blieb im Unterhaus bei seinem harten Kurs: Angesichts der noch immer zweistelligen Inflation stünden die von den Gewerkschaften geforderten Gehaltserhöhungen außer Frage.

Unter dem Motto „In Bildung investieren“ gehen hunderttausende Menschen für Tariferhöhungen für Lehrerinnen und Lehrer auf die Straßen.
Unter dem Motto „In Bildung investieren“ gehen hunderttausende Menschen für Tariferhöhungen für Lehrerinnen und Lehrer auf die Straßen.

© AFP/Oli Scarff

Rund eine halbe Million Menschen, vor allem im öffentlichen Dienst, beteiligten sich am größten koordinierten Warnstreik der vergangenen 30 Jahre. Zu ihnen zählten Lehrende an Universitäten, Angestellte in 124 Regierungsbehörden - darunter auch dem Ministerium von Finanzminister Jeremy Hunt - sowie die Lokführer in vielen privatisierten Eisenbahn-Unternehmen.

In den Häfen von Dover und Dünkirchen sorgten streikende Grenzschützer für lange Lkw-Staus, in großen Museen wie dem weltberühmten Britischen Museum herrschte Personalnot. Für die Eltern schulpflichtiger Kinder dürfte die Rückkehr ins Home Office zur Bespaßung des Nachwuchses in den kommenden Wochen zur Routine werden.

Weitere Streiks in den kommenden Monaten

Im Februar und März plant die Gewerkschaft NEU weitere sechs Streiktage, und nichts deutet einstweilen darauf hin, dass Bildungsministerin Gillian Keegan den NEU-Forderungen entgegenkommen will. Im laufenden Finanzjahr erhalten Lehrerinnen mindestens fünf Prozent, die am schlechtesten bezahlten bis zu 8,9 Prozent mehr Gehalt.

Angesichts der Inflationsrate von 10,5 Prozent –Lebensmittel wurden zuletzt sogar um 13,8 Prozent teurer – stellt dies einen Reallohnverlust dar. Die Bildungs-Gewerkschaft sowie ihre Pendants in anderen Branchen fordern für alle Mitglieder wenigstens einen Ausgleich der Teuerungsrate. Daneben geht es aber auch um Pensionskürzungen (Uni-Dozenten), schlechte Ausstattung am Arbeitsplatz (Schulen) und sicherheitsanforderungen (Eisenbahn).

Offenbar will die Regierung mit einer Mischung aus schönen Worten und subtilen Drohungen dem Konflikt den Sauerstoff entziehen. Die Bildungsministerin schwärmte am Mittwoch von ihrem „konstruktiven“ Dialog mit der Gewerkschaft, was auf der Gegenseite heftiges Stirnrunzeln verursachte.

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Im konservativen „Times Radio“ sprach Keegan aber auch pointiert über ein neues Gesetz, das derzeit vom Parlament beraten wird. Dieses soll „Mindest-Servicestandards“ festlegen; in systemrelevanten Branchen wie dem Gesundheitssystem NHS oder den Verkehrsbetrieben würde dadurch das Streikrecht erheblich eingeschränkt.

85
Prozent der staatlichen Schulen in England und Wales blieben ganz geschlossen oder kümmerten sich lediglich um kleine Schülergruppen.

So sieht es Mick Whelan von der Eisenbahner-Gewerkschaft Aslef: „Wenn man nicht streiken darf, wird man zum Sklaven.“ Während seine Mitglieder seit vier Jahren keine Lohnerhöhung erhalten hätten, „machen die 15 privatisierten Unternehmen Gewinne und zahlen Dividenden“.

Auffälligerweise beteiligten sich die NHS-Beschäftigten nicht an dem landesweiten Aktionstag, ihre Stunde schlägt erst wieder nächste Woche. Die Abstinenz könnte darin begründet sein, dass die Sympathie der Bevölkerung für das Anliegen von Krankenschwestern und Rettungsfahrern Umfragen zufolge deutlich höher liegt als für Lehrerinnen und Lokführer.

Für Sunak besteht nur in einem Konflikt Hoffnung

Für Premier Sunak enden die ersten 100 Regierungstage diese Woche wie sie begannen: mit drückenden ökonomischen Problemen, einer tief verunsicherten und verärgerten Bevölkerung.

Beim wöchentlichen Schlagabtausch im Unterhaus wies Oppositionsführer Keir Starmer nicht nur nachdrücklich auf die unappetitliche Steueraffäre um den erst spät entlassenen konservativen Generalsekretär Nadhim Zahawi hin. Der einstige Staatsanwalt setzte den Regierungschef auch mit den Mobbing-Vorwürfen gegen Vize-Premier Dominic Raab unter Druck.

Premier Rishi Sunak steht nach 100 Tagen im Amt vor großen Herausforderungen.
Premier Rishi Sunak steht nach 100 Tagen im Amt vor großen Herausforderungen.

© dpa/Jessica Taylor

Anders als Zahawi gehört der Justizminister – seit seiner Zeit im Foreign Office hinter vorgehaltener Hand als „dämlicher Dominik“, englisch: Dim Dom, bekannt – zu Sunaks engsten Verbündeten.

Wenn man nicht streiken darf, wird man zum Sklaven.

Mick Whelan, Aslef Eisenbahner-Gewerkschaft

Davon gibt es nicht sehr viele. Selbst die wohlmeinende Website „Conservative Home“ (CH) stellte am Mittwoch provokativ die Frage, ob es sich bei dem 42-Jährigen eigentlich um einen Politiker handele oder nicht doch eher um einen Technokraten: „ein Familienmann, ein harter Arbeiter, sehr religiös, ordentlich, patriotisch, ernsthaft“, wie CH-Chef Paul Goodman zusammenfasst. Die Frage aber, wofür die Konservativen eigentlich stünden, lasse der Partei- und Regierungschef offen.

Die Klage ist weit verbreitet – und wird von Sunaks illoyalen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss heftig geschürt. Vor allem der Brexit-Vormann lässt dieser Tage keine Gelegenheit aus, dem ungeliebten Nachfolger auf die Füße zu treten.

Dieser verweist ungerührt auf seine Prioritäten: „die Inflation senken“ und „die Wirtschaft ankurbeln“ stehen dabei an erster Stelle. Angesichts des ungewissen Ausgangs der vielfältigen Streiks zu Jahresbeginn bleibt das eine gewaltige Aufgabe.

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