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Kanzler Merz zu Besuch in der Türkei: Erdogan ist für Europa so problematisch wie unverzichtbar
Der türkische Staatschef ist für Europa wichtig wie nie. Doch gleichzeitig ist Erdogan ein problematischer Partner. Experten erwarten, dass er sich trotz einiger Probleme an der Macht hält.
Stand:
In Ankara geben sich europäische Spitzenpolitiker derzeit die Klinke in die Hand. An diesem Mittwoch kommt Bundeskanzler Friedrich Merz, am Montag war bereits der britische Premier Keir Starmer in der türkischen Hauptstadt.
Präsident Recep Tayyip Erdogan ist für Europa so wichtig wie nie. Erdogan und Starmer unterzeichneten bei ihrem Treffen ein Abkommen für den Kauf von 20 Kampfjets vom Typ Eurofighter Typhoon von Großbritannien, was Erdogan ein „neues Symbol“ für die strategischen Beziehungen zwischen Ankara und London nannte. Merz will mit Erdogan über Migration sprechen.
Die Unterdrückung der türkischen Opposition und der Meinungsfreiheit sind dagegen keine Themen. Die Europäer erwarten keinen baldigen Regierungswechsel in Ankara, denn Erdogan hält sich auch nach 22 Jahren an der Macht.
Howard Eissenstat, Türkeiexperte an der St.-Lawrence-Universität in den USA und am Institut für Türkeistudien der Universität Stockholm, sieht das ähnlich.
Erdogan wird auf absehbare Zeit an der Macht bleiben.
Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der St-Lawrence-Universität
Er rechnet damit, dass der Staatschef auch nach der nächsten Wahl 2028 und damit über das derzeitige Limit seiner Amtszeit hinaus regieren wird: „Seine Position wird nicht ernsthaft infrage gestellt. Er wird auf absehbare Zeit an der Macht bleiben.“
Dennoch: Erdogan hat einige Probleme. So klagen die Wähler über die Inflation von mehr als 30 Prozent, explodierende Mieten und hohe Schulgebühren. Seine Partei AKP liegt in Umfragen hinter der Opposition. Bei der Wahl im türkischen Teil von Zypern verlor Erdogans Wunschkandidat.
Erdogan ist auch mit seinem Ziel gescheitert, die Türken frommer zu machen. Die Zahl der gläubigen Muslime im Land nimmt ab. Nach Daten des Umfrageinstituts Konda bezeichnen sich 46 Prozent der Türken als fromm – 2008 waren es noch 55 Prozent. Die Zahl der Atheisten stieg von zwei auf acht Prozent.
Die Zahl der Alkoholkonsumenten dagegen nahm zu. Wie der Kolumnist Ertugrul Özkök von der Wirtschaftsnachrichtenseite Ekonomim berichtet, hat das Institut Ipsos herausgefunden, dass 52 Prozent der volljährigen Türken mindestens einmal in ihrem Leben Alkohol getrunken haben. Vor fünf Jahren waren es nur 40 Prozent.
Bisweilen wird auch spekuliert, wie lange Erdogans Gesundheit noch mitspielt – zuletzt bei einem Treffen mit US-Präsident Donald Trump, der acht Jahre älter ist als Erdogan, aber wesentlich agiler wirkt.

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In der Umgebung des türkischen Präsidenten laufen sich daher mögliche Nachfolger warm und kämpfen mit gezielten Indiskretionen um gute Ausgangspositionen.
Gegner lässt Erdogan ins Gefängnis werfen
Erdogan wisse, dass er aus eigener Kraft keine Wahlen mehr gewinnen könne, sagt der Türkeiexperte Soner Cagaptay vom Washington-Institut für Nahoststudien.
Der Präsident hat denn auch seinen Herausforderer von der Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoglu, ins Gefängnis werfen lassen. Ein Istanbuler Gericht erließ am Wochenende einen zusätzlichen Haftbefehl wegen angeblicher Spionage gegen den Hoffnungsträger.

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Die CHP will weiterkämpfen. Aber: „Wir sind müde“, sagte Parteichef Özgür Özel nach dem neuen Haftbefehl gegen Imamoglu. Er wirft der regierungstreuen Justiz vor, neue Vorwürfe vorgebracht zu haben, weil die Wähler nach wie vor zu dem beliebten früheren Istanbuler Bürgermeister halten.
Dass Imamoglu rechtzeitig vor der nächsten Wahl in drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, ist unwahrscheinlich. Er sitzt seit März wegen angeblicher Korruption in Untersuchungshaft, ohne dass eine formelle Anklage oder ein Prozessbeginn in Sicht wären. Jetzt kommt das Verfahren wegen angeblichen Spionageverdachts hinzu.
Die Kurden als Mittel zum Zweck?
Während er die CHP mit der Prozesswelle in Schach hält, arbeitet Erdogan an der Verlängerung seiner Amtszeit.
Experte Eissenstat ist überzeugt, dass der Präsident auch deshalb mit den Kurden über eine Friedenslösung nach mehr als 40 Jahren Krieg verhandelt, weil er sich mit den Stimmen der Kurdenpartei DEM im Parlament die nötigen Mehrheiten für eine neue Kandidatur 2028 sichern will. Demselben Ziel diene der Versuch der AKP, oppositionelle Parlamentsabgeordnete auf ihre Seite zu ziehen.
Das stellt Europa vor ein Dilemma. Zum einen kann die Türkei mit ihrer großen Armee und ihrer modernen Rüstungsindustrie den Europäern bei der Verstärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit helfen. „Andererseits ist das Land keine Demokratie und wird in absehbarer Zeit auch keine sein“, analysiert Eissenstat.
Zudem konzentriert sich die türkische Außenpolitik weniger auf Europa als auf andere Weltgegenden wie die Golfstaaten oder Afrika.
Erdogan sehe Russland als wichtigen Partner und teile die Ansicht von Kremlchef Wladimir Putin, dass die vom Westen dominierte Weltordnung überwunden werden müsse, sagt Eissenstat. Für den Westen sei und bleibe die Türkei dennoch „ein wertvoller und zugleich extrem problematischer Partner“.
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