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Kyjiw zieht sich wohl teilweise aus Kursk zurück: Ukrainische Militärexperten ziehen dennoch positives Fazit aus der Gegenoffensive in Russland
Russland erobert zunehmend Gebiete in der Region Kursk zurück. Und Kyjiws Armeechef deutet nach der monatelangen Offensive einen Teilrückzug an. Wie ukrainische Militärexperten darauf blicken.
Stand:
Nach den Gebietsverlusten in der russischen Grenzregion Kursk hat der ukrainische Armeechef Oleksandr Syrskyj einen Teilrückzug seiner Truppen angedeutet. „In der schwierigsten Situation war und ist es meine Priorität, das Leben der ukrainischen Soldaten zu retten“, erklärte Syrskyj am Mittwoch im Online-Netzwerk Facebook. „Zu diesem Zweck begeben sich die Einheiten der Verteidigungskräfte, wenn nötig, in günstigere Positionen“, fügte er hinzu und nutzte eine Formulierung, die typischerweise verwendet wird, um einen Rückzug zu verkünden.
„Trotz des zunehmenden Drucks durch die russische/nordkoreanische Armee werden wir die Verteidigung in der Region Kursk so lange aufrechterhalten, wie es angemessen und notwendig ist“, fuhr Syrskyj fort. Ukrainische Militärexperten sprechen dennoch fast ausnahmslos von einer erfolgreichen Operation.
Die ukrainische Armee hatte im vergangenen Sommer überraschend eine Offensive in der Region Kursk begonnen und dort zunächst mehrere hundert Quadratkilometer unter ihre Kontrolle gebracht. Russland gelang es nach eigenen Angaben inzwischen aber, große Teile der anfangs von der Ukraine besetzten Gebiete zurückzuerobern. Geholfen haben dürften auch viele nordkoreanische Soldaten. Nach Angaben der Ukraine und ihrer Verbündeten schickte Pjöngjang mehr als 10.000 Soldaten nach Russland. Auch ukrainische Militärbeobachter räumen inzwischen große Gebietsverluste ein.
Kreml meldet Rückeroberung der Stadt Sudscha
Am Donnerstag meldeten die russischen Streitkräfte zudem, die seit gut sieben Monaten von ukrainischen Truppen besetzte Kleinstadt Sudscha im westrussischen Gebiet Kursk befreit zu haben. Das teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Eine Bestätigung von ukrainischer Seite gab es zunächst nicht.
Am Mittwoch reiste Kreml-Chef Wladimir Putin erstmals seit der Überraschungsoffensive zu einem Truppenbesuch in die Region. Im russischen Fernsehen war zu sehen, wie Putin von Generalstabschef Waleri Gerassimow über die Lage in Kursk informiert wurde. Gerassimow sagte, Russland habe 430 ukrainische Soldaten in der Region Kursk gefangengenommen. Innerhalb der vergangenen fünf Tage seien außerdem 24 Siedlungen zurückerobert worden.
Putin äußerte die Erwartung, dass „die Region Kursk bald vollständig vom Feind befreit sein wird“. Die gefangengenommenen ukrainischen Soldaten sollten „gemäß den Gesetzen der Russischen Föderation wie Terroristen behandelt werden“. Dies deutet darauf hin, dass ihnen Prozesse vor russischen Gerichten und jahrzehntelange Haftstrafen drohen könnten.
Ukrainische Militärexperten ziehen Bilanz
Der ukrainische Militärexperte Petro Tscherniak zieht trotzdem eine positive Bilanz. Kyjiws Streitkräfte hätten in Kursk den Mythos widerlegt, dass ein nicht-nuklearer Staat einen nuklearen Staat nicht angreifen kann, sagte er dem Fernsehsender Channel 5. Das strategische Ziel sei damit erreicht worden.
Laut Wladyslaw Seleznjow, dem ehemaligen Sprecher des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte, hat die Ukraine ohnehin nicht vorgehabt, für immer in Kursk zu bleiben. Die Hoffnung, eine beträchtliche Zahl feindlicher Kräfte und Mittel zu binden, nämlich etwa 60.000 russische Soldaten, habe sich erfüllt, sagte er Radio NV.
Die militärischen Ziele seien in der Region Kursk voll aufgegangen, findet gar der Militäranalyst Serhiy Zgurets. Russland habe erhebliche Verluste erlitten, sei dauerhaft auf Trab gehalten worden.
Zugleich räumte er bei Espresso TV ein, dass die Ukraine inzwischen deutlich weniger Territorium in der Region Kursk kontrolliere. Ihre Streitkräfte hätten sich aus dem nördlichen und nordwestlichen Teil zurückgezogen. Der östliche Teil stehe nach wie vor unter dem Druck des Feindes, der versuche, nach Sudscha in den Westen vorzustoßen, sagte Zgurets, bevor Russland am Donnerstag meldete, die Kleinstadt zurückerobert zu haben.
Ein Ziel der Angriffe in Kursk bestand daran, Faustpfand für Verhandlungen mit Russland zu erobern. Dazu sagen die ukrainischen Experten nichts.
Dass Russland jedoch bis in die Region Sumy in der Ukraine vorstößt, hält Zgurets für unwahrscheinlich. Wegen der starken Befestigungslinien habe es der Aggressor dort schwer.
Deutlich zurückhaltender äußerte sich der Militärexperte Oleh Zhdanov. Die ukrainische Spionageabwehr müsse gestärkt werden, sagte er in einem Interview mit dem Online-Medienportal Apostrophe. Der hohe Kenntnisstand der russischen Truppen über die Stellungen und die Logistik der ukrainischen Streitkräfte in der Region Kursk deute darauf hin, dass es ein Informationsleck gebe.
Die Operation in Kursk wollte er zunächst nicht bewerten. Das sei erst nach deren Abschluss möglich. Gegenwärtig könne der Generalstab die Verluste wegen eines teilweise unterbrochenen Kommando- und Kontrollsystems nicht genau bestimmen. Vor der Rückeroberungsoffensive Russlands seien die ukrainischen Verluste moderat gewesen, während die russischen Truppen erhebliche Verluste erlitten hätten, sagte er.
Der Militärexperte und pensionierte Oberst der ukrainischen Streitkräfte, Roman Svitan, fürchtet derweil negative Folgen durch das Hickhack um die Aussetzung der US-Hilfen. Ohne einen klaren Plan für die Lieferung von Ausrüstung und Munition könne die Ukraine keine Offensivaktionen mehr durchführen. Damit drohe ein Rückzug auf den reinen Verteidigungsmodus. (mit AFP/dpa)
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