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Die Straßenproteste gegen die Rentenreform in Paris und anderen französischen Städten gehen weiter, teils mit ikonischen Bildern der Revolution.

© action press/ISA HARSIN/SIPA

Frankreich versus Ungarn und Polen: Beim Rechtsstaat misst Europa mit zweierlei Maß

Revolution von oben statt von unten: Macron bekommt seine Rentenreform und muss nun noch den Protest der Straße überwinden. Er provoziert damit neue Fragen nach der Demokratie.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Revolution von oben siegt. Die Revolution der Straße gegen die Rentenreform unterliegt. Frankreichs Verfassungsrat hat mit seinem Urteil einen sehr französischen Weg beschritten, um den Widerstand von unten allmählich zu überwinden.

Die sechs Männer und drei Frauen, die aus der gleichen staatstragenden Oberschicht wie Emmanuel Macron stammen, haben das Gesetz, das das Rentenalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anhebt, im Kern gebilligt, einzelne Aspekte aber gekippt. Zum Beispiel den Senioren-Index. Er verpflichtet Unternehmen, offenzulegen, wie viele Angestellte über 55 Jahre sie beschäftigen.

Das klingt wie eine salomonische Lösung. Das Prestigeprojekt, das der Staatspräsident nach deutschen Maßstäben undemokratisch durchgedrückt hatte, ohne Abstimmung im Parlament, wird gerupft, aber nicht beerdigt. Dem Anschein nach soll es weder Sieger noch Besiegte geben.

Die Gewerkschaften mobilisieren zum 1. Mai

Wird das Kalkül aufgehen? Auf die Schnelle nicht. Das Kräftemessen zwischen „Oben“ und „Unten“ hat die Gesellschaft gespalten und manche Bereiche der Großstädte in bürgerkriegsähnliche Zonen verwandelt.

Die Gewerkschaften haben Macrons Angebot, sich nach dem Urteil zum Dialog zu treffen, abgelehnt. Sie wollen den Arbeitertag am 1. Mai und die Zeit bis dahin zur Mobilisierung nutzen. Die Straßenproteste mit Bränden, einschüchterndem Polizeiaufgebot und Festnahmen werden die nächsten Wochen andauern.

Zugleich zeichnet sich jedoch ab, dass die Zahl der Protestierenden abnimmt und nicht mehr in die Hunderttausende geht. Gut möglich, dass der Widerstand allmählich ausläuft.

Protestfeuer nahe dem Rathaus von Paris.
Protestfeuer nahe dem Rathaus von Paris.

© action press/ISA HARSIN/SIPA

Die kommenden Wochen sind auch ein Test, ob die letzte Option, die Rentenreform durch ein Referendum aufzuhalten, Aussicht auf Erfolg hat. Dafür müssten die Gegner binnen neun Monaten Unterschriften von zehn Prozent der Wahlberechtigten sammeln: rund 4,8 Millionen. Bisher ist es noch nie zu einer Volksabstimmung auf diesem Weg gekommen.

Für deutsche Beobachter bieten die hässlichen Szenen aus Frankreich Anlass, die klischeehaften Narrative über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in diversen Regionen der EU einem Realitätstest zu unterziehen.

Erfüllt der hoch geschätzte Nachbar im Westen die deutschen Maßstäbe für geordnete Verhältnisse? Und in höherem Maße als die zu Recht kritisierten Regierenden in Polen und Ungarn, die viele Deutsche von oben herab als Europäer zweiter Klasse betrachten?

Agiert Macron demokratischer als Ungarn und Polen?

Wie würde das öffentliche Urteil ausfallen, wenn Nationalpopulisten wie Viktor Orban in Budapest oder die PiS-Regierung in Warschau eine so grundlegende Reform wie die Anhebung des Rentenalters mit ähnlich autoritären Methoden erzwingen wie Macron in Paris: ohne ein Votum des Parlaments. Und sie sich dann von einem Verfassungsrat absegnen lassen, dessen Mitglieder sie zum Gutteil persönlich ausgesucht haben. Ein Verfassungsgericht gibt es in Frankreich nicht.

Andere Länder, andere Sitten. Der Verfassungsartikel 49.3, mit dem Macron das Parlament aushebelte, gehört zu den „ganz normalen“ Werkzeugen französischer Regierungen. Alle haben ihn ausgiebig genutzt, seit General de Gaulle ihn 1958 eingeführt hat, um auch ohne Parlamentsmehrheit regieren zu können.

Die EU-Staaten haben ihre je eigenen Traditionen, wie sie ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat leben. Gemeinsame Maßstäbe fehlen. Deshalb ist die Berufung auf einen angeblich in den EU-Verträgen vereinbarten Standard eine ähnliche Farce wie das angeblich demokratische und formal den Verfassungsnormen entsprechende Zustandekommen der Rentenreform in Frankreich.

Der wahre Grund, warum Macron diesen problematischen Weg wählte: Er sah keinen anderen, um Frankreich aus der strukturellen Reformunfähigkeit zu holen. Sie hätte über kurz oder lang in den Staatsbankrott geführt und den Euro gefährdet.

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