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„Mein Baby ist tot“: 128 Tote nach Hochhausbrand in Hongkong – noch immer viele vermisst
Es ist die schwerste Brandkatastrophe in Hongkong seit 1948: Während die Stadt Spenden sammelt, suchen Angehörige nach Überlebenden – und identifizieren die Toten.
Stand:
Acht Türme mit je 32 Stockwerken. 1984 Wohnungen. 4643 Bewohner. Junge, viele Alte, Familien. „Wang Fuk Court“ – ein Wohnkomplex, wie jeder andere in Hongkong. Seit Mittwoch wird er der „Grenfell Tower Asiens“ genannt.
Bei dem Brand eines Londoner Wohnhauses 2017 hatte sich das Feuer auch viel zu schnell ausgebreitet. 72 Bewohner starben.

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In Hongkong sind es mittlerweile schon 128 Menschen, die durch den Brand ums Leben kamen. Am Mittwochnachmittag war er im Osten der Stadt ausgebrochen.
80 Menschen wurden verletzt; unter den Opfern sind auch mehrere Feuerwehrleute. Viele werden noch immer gesucht – zu ihnen haben Angehörige den Kontakt verloren, als der Brand begann. Die offizielle Zahl von 279 Vermissten wurde bislang nicht nach unten gestuft.
Nach und nach werden an diesem Freitag die Leichen geborgen; Angehörige müssen sie identifizieren.

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Es sind Geschichten, die es nicht geben dürfte.
Zettel hängen im Gebiet nahe der Katastrophe, an Straßenlaternen, Absperrungen und Zäunen. Darauf: Fotos, Beschreibungen, Handynummern. Nüchterne Daten einer verzweifelten Suche.

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Ein Herr Zheng etwa vermisst das fünf Jahre alte Mädchen Xixi Zheng, Spitzname Hannah, und ihre Kinderfrau Maryan, 155 cm groß.
Da ist Winnie Hui, die vor einer der Notunterkünfte zusammenbricht. „Mein Baby ist tot“, sagt sie schluchzend der „South China Morning Post“ (SCMP). „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
Wieder und wieder habe sie in den sozialen Medien Beiträge mit Fotos ihres Kindes gepostet – in der Hoffnung, es mit der Hilfe anderer zu finden.

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Um 14:51 Uhr war bei der Feuerwehr ein Notruf eingegangen, dass das Bambusgerüst eines Wohnhauses im Bezirk Tai Po im Osten der Stadt in Flammen steht.
Um 15:02 Uhr hatte Hui zuletzt mit ihrer Schwiegermutter Li Kin-yuk telefoniert, die sich um ihre sechs Monate alte Tochter Ho Tsz-yan kümmerte. Es rauche draußen, sagte die 68-Jährige. Sie, ihr Mann und das Baby würden lieber in eine andere Wohnung auf derselben Etage gehen. Danach brach der Kontakt ab.
Ähnlich erging es einem Teenager, dessen 16-jährige Freundin mit ihrem Onkel und ihrer Großmutter in dem Haus wohnte. Auf Instagram schrieb er, dass sie gerade von der Schule nach Hause gekommen sei. Dann habe sie ihm um 15:23 Uhr geschrieben: „Das Feuer aus der Nachbarwohnung kommt... es geht mir nicht gut.“
Innerhalb von fünf Minuten oder sogar weniger sei das Feuer bis in den 32. Stock hochgeschlagen und dann auf weitere Türme übergegangen, rekonstruiert der Gebäude-Experte Xinyan Huang das Unglück bei CNN.

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Zeit für eine Flucht gab es praktisch nicht für jene, die nah am Brandherd wohnten.
„Die Evakuierung eines 32-stöckigen Gebäudes dauert grundsätzlich sehr lange“, erklärt der Professor des Fachbereichs Bauumwelt und Energietechnik der Hong Kong Polytechnic University.

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„Mindestens zwanzig Minuten.“
Auch andere suchen nach ihren Liebsten, ihre Schicksale ähneln sich: Da ist ein älterer Mann, der seine Frau sucht – und die wenige Monate alte Enkelin. „Ich habe alle Krankenhäuser überprüft – keine Spur von ihnen“, sagt er der SCMP. „Die Polizei sagte mir, ich solle ihre Daten registrieren, und das habe ich getan. Ich wünschte nur, ich könnte mehr tun. Vielleicht sind sie irgendwo in Sicherheit.“
Dann sagt er: „Es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, dass das Baby vielleicht seit 20 Stunden nichts mehr gegessen hat.“

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Auch ein Feuerwehrmann kam in den Flammen ums Leben, seine Kollegen fanden ihn bewusstlos am Einsatzort.
Im Krankenhaus erlag er seinen Verletzungen. „Ich möchte wirklich, wirklich gerne wieder deine Hand halten können“, schrieb seine Partnerin in einem Social-Media-Post. Sie könne „nicht akzeptieren“, was geschehen sei. Er sei ihr „Superheld“ gewesen und ihr „ganzer Stolz“.
Viele Bewohner konnten dank der Einsatzkräfte gerettet werden. Doch die meisten haben alles verloren.
Der Rest der Stadt, geschockt von der Tragödie, sammelt Spenden: Hilfsorganisationen bitten um Blutspenden. Aber auch Decken, Schlafmatten, Handy-Aufladegeräte, Powerbanks, Kleidung, Hygieneartikel werden gebraucht – und Krücken oder andere Gehhilfen.

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Denn im Wang Fuk Court lebten ungewöhnlich viele alte Menschen.
Rund 36 Prozent der Einwohner waren 65 Jahre oder älter, schreibt die Immobilienagentur Centaline, die sich auf Daten der Stadtverwaltung stützt. Das ist deutlich mehr als der Anteil älterer Menschen in Hongkong insgesamt, der laut Centaline bei 19,6 Prozent liegt.

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Der Gebäudekomplex stammt aus dem Jahr 1983.
Viele Anwohner zogen dort als junge Paare ein – und blieben, als die Kinder erwachsen das Haus verließen. Eine von ihnen ist Frau Dang. Wang Fuk Court sei ein idealer Ort gewesen, um ihre vierköpfige Familie großzuziehen, erzählt sie CNN.

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Ihr Mann habe in der staatlichen Wohnungslotterie gewonnen, was ihnen ermöglichte, eine Wohnung in der Anlage zu kaufen.
Das war vor mehr als 20 Jahren. Ihre Kinder haben inzwischen geheiratet und sind weggezogen. Aber sie blieb in der Wohnung in Block 4 wohnen. Am Mittwochnachmittag sei sie von einem Tanzkurs nach Hause gekommen und sah, dass Block 6 brannte.
„Nach ein paar Stunden fingen auch die anderen Gebäude Feuer“, erinnert sie sich.

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„Alles, was ich gemacht habe, ist, zu sehen, wie mein Zuhause zu Asche verbrennt. Meine Kleidung ist ganz schwarz von den Funken.“
Aufgrund der Renovierungsarbeiten in der Anlage seien viele Fenster außerhalb der Wohnungen mit Plastik oder Styropor und Gerüsten verkleidet gewesen. „Ich konnte deshalb nicht einmal sagen, ob es sonnig war oder regnete, bis ich mein Gebäude verlassen hatte“, erzählt sie.
Tatsächlich steht die für die Renovierungsarbeiten verantwortliche Baufirma im Fokus der Ermittlungen: Zwei Direktoren und ein Berater des Unternehmens waren bereits am Donnerstag verhaftet worden. Ihnen wird „grobe Fahrlässigkeit“ vorgeworfen.

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Die Styropor-Platten, Bambusgerüste und Netze an der Gebäudefassade sollen wie ein Brandbeschleuniger gewirkt haben.
Wang kann sich nur schwer vorstellen, in ihre Wohnsiedlung zurückzukehren, selbst wenn die Reparaturen abgeschlossen sind und alles wieder aufgebaut wäre.

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Noch immer werden zahlreiche Menschen vermisst.
Rund 900 Überlebende der Katastrophe werden in acht provisorischen Unterkünften versorgt.

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In Schulen und Sporthallen.
Doch Dutzende wollten in der Nähe ihres alten Zuhauses bleiben – und denen, die dort, so die Hoffnung, noch lebend gefunden werden können.

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Sie schlafen in einem nahegelegenen Einkaufszentrum.
Groß war die Freude, als Feuerwehrleute am Donnerstagabend um 18 Uhr einen Mann aus dem 16. Stock lebend retten konnten.
Mittlerweile ist das Feuer offiziellen Angaben zufolge in allen Gebäuden „praktisch unter Kontrolle“, doch auch noch am Freitag waren vereinzelte Flammen zu sehen.

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Pro Haushalt will die Stadtverwaltung nun einen Sozialarbeiter zur Verfügung stellen, um den Betroffenen dabei zu helfen, den Schock zu bewältigen und wieder in den Alltag zurückzukehren.
Hongkonger Firmen sammelten zusammen mehr als 100 Millionen Hongkong-Dollar (11 Millionen Euro) für die Opfer; einige Hotels versprachen, Zimmer bereitzustellen. Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping sagte dem Roten Kreuz am Donnerstag 2,2 Millionen Hongkong-Dollar (HKD, ca. 240.000 Euro) für die Bergung der Opfer zu.

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Und auch Chinas Industrie-Giganten wollen die Sonderverwaltungszone in dieser schweren Krise unterstützen.
30 Millionen HKD (3,3 Millionen Euro) kommen von Alibaba, 30 weitere von der privaten Stiftung des Firmengründers Jack Ma. Genauso viel spendet die Ant-Gruppe, zu der Jack Wolfskin und Fila gehören. Von Xiaomi und ByteDance, wozu TikTok gehört, kommen zehn Millionen HKD.
Der Wiederaufbau und die Versorgung der Betroffenen dürften so leichter werden. Doch es wird lange dauern, bis Hongkong den tödlichsten Brand in seiner Geschichte seit 1948 verarbeitet hat.
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