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Militärexperte über die Lage im Ukrainekrieg: „Friedensverhandlungen sind pure Spekulation von Biertischdiplomaten“
Gustav Gressel schätzt die aktuelle Lage der Ukraine ein. Auf dem Schlachtfeld liegt der Teufel demnach im Detail – und die Bedingungen für Verhandlungen sind nicht gegeben.
Stand:
Wie gut oder schlecht es für die Ukraine derzeit läuft, hängt stark davon ab, welchen strategischen Zielen sich die verteidigende Armee unterstellt. Fakt ist: Russland kontrolliert im dritten Jahr seiner Invasion lediglich einen Teil der viel kleineren Ukraine.
Eine neue russische Offensive brachte jüngst nur geringe Geländegewinne bei horrenden Verlusten unter den Männern, die in einer „Fleischwolfstrategie“ für Präsident Wladimir Putin in den sicheren Tod geschickt werden.
Dennoch ist die Ukraine weit entfernt von ihrem Ziel, die russische Besatzungsarmee aus dem Land zu vertreiben und die 2014 völkerrechtswidrig von Russland annektierte Krim zurückzuerobern.
Das ist im Jahr 2024 auch deswegen zunehmend dramatisch, weil sich mit der drohenden Wiederwahl von Donald Trump im November das Zeitfenster für die internationale Unterstützung der Ukraine zu schließen scheint.
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Der rechtspopulistische US-Republikaner gilt nicht als Unterstützer Kiews, sondern dürfte den Ukrainekonflikt als Chance sehen, sich innenpolitisch als Friedenspolitiker zu positionieren, der einen für die Amerikaner zunehmend teuren Krieg beendet. Ob eine Verhandlungslösung zulasten der Ukraine ausgeht, dürfte Trump dabei egal sein.
1 Mangel und fehlende Führung an der Front
Der Ukraine geht die Zeit aus. Was sind derzeit die größten Probleme an der Front? Gustav Gressel, Politikwissenschaftler und Militärexperte am European Council on Foreign Relations, sagte dem Tagesspiegel: „Bei den Ukrainern kommen jetzt viele Probleme auf einmal zusammen: abgekämpfte Einheiten, hohe Verluste von qualifiziertem Personal vor allem im Frühjahr, fehlende Munition, fehlendes Material (vor allem gepanzerte Fahrzeuge), Verwundbarkeit gegenüber russischen Gleitbombenangriffen, kaum Möglichkeiten, russische Aufklärungsdrohnen abzufangen.“
In einem Abnutzungskrieg geht es beiden Seiten schlecht, beide Seiten haben mit erheblichen Problemen bei der Regenerierung ihrer Einheiten zu kämpfen
Gustav Gressel, Militärexperte
Vielfach wurde jüngst über die Schwächen der russischen Armee berichtet, die sich in schwindenden Beständen von Panzern und wachsendem Rekrutierungsaufwand für neue Soldaten ausdrückt. Laut Gressel werde dabei oft vergessen, dass die Ukraine ähnliche Probleme habe. „In einem Abnutzungskrieg geht es beiden Seiten schlecht, beide Seiten haben mit erheblichen Problemen bei der Regenerierung ihrer Einheiten zu kämpfen.“
Die ukrainische Führung verkompliziere die Lage dadurch, dass sie frisch mobilisierte Soldaten in neue Brigaden stecke, anstatt sie den bestehenden zuzuführen. Warum ist das aus Sicht des Experten ein Problem? Weil die abgekämpften Männer in ihren ausgedünnten Einheiten an der Front so nicht spüren, dass überhaupt Verstärkung kommt, auch weil die Ablösung durch neue Brigaden in der Praxis nicht gut funktioniere. Es fehle schlicht am geeigneten Führungspersonal für die neuen Einheiten.
Hinzu komme, dass neue Brigaden sich erst mal einspielen müssen. Das braucht Zeit.
2 Der Westen hilft zu spät bei der Abwehr russischer Raketen
Auch abseits der Front strapaziert der Krieg zunehmend die Moral, Ressourcen und Infrastruktur der Ukraine, wenn Zivilisten bei Raketeneinschlägen getötet werden und mal wieder der Strom ausfällt, weil die Energieversorgung ein Hauptziel russischer Bomben ist. Wo hakt es bei der Abwehr russischer Drohnen und Raketen?
Im Februar 2024 ist der Ukraine für ihre Fliegerabwehrsysteme sowjetischer Bauart die Munition ausgegangen, so Gressel. Obwohl das Problem absehbar gewesen sei, habe der Westen erst reagiert, als „Russland die ukrainische Strominfrastruktur kaputt geschossen hatte“. Umso mehr brauche die Ukraine nun die versprochenen F-16-Kampfflugzeuge, die unter anderem zur Abwehr von Raketen, Gleitbomben und Drohnen eingesetzt werden können.
Doch auch hier habe die westliche Koalition aus Sicht von Gressel zu lange gebraucht. „Es hat in Washington sechs Monate gedauert, Biden weich zu reden, den Europäern zu erlauben, alte F-16s in die Ukraine zu liefern.“
Gressel rechnet damit, dass die ersten F-16s bald in der Ukraine eintreffen werden. Ein Datum werde geheim gehalten, um Angriffe der russischen Armee zu erschweren – die sich ja auch wegen des langen Zögerns im Westen schon lange auf die Ankunft der Flugzeuge vorbereiten konnte.
Sind die F-16s schließlich eingetroffen, werde es zu ihrem Schutz vor der russischen Armee auf die Fliegerabwehr am Boden angekommen. Wegen des Ressourcenmangels bei der Verteidigung spiele die häufige Verlegung der F-16s eine umso größere Rolle, so Gressel.
Der Experte geht davon aus, dass die Kampfflugzeuge effektiv gegen russische Marschflugkörper und Drohnen sein werden. Zum Vorteil der Ukraine könne dabei auf ältere Munition zurückgegriffen werden, die in den Lagern vieler NATO-Staaten zur Genüge vorrätig sei. Doch die russische Armee greift eben nicht nur mit Marschflugkörpern und Drohnen an. Zunehmend beklagte sich die Ukraine in den vergangenen Monaten über Attacken mit russischen Gleitbomben. Hier liegt eine mögliche Schwäche der F-16s.
Ob nämlich die F-16s in der Nähe der Front gegen russische Flugzeuge und ihre Gleitbomben eingesetzt werden können, ist laut Gressel eine offene Frage. Es hänge von der mitgelieferten Munition ab – und davon, ob die geringe Reichweite des F-16-Radars ausgeglichen werden könne, ob die westlichen Kampfflugzeuge die russischen Jagdbomber also überhaupt rechtzeitig sehen.
Gressel hofft dabei unter anderem auf die angekündigte Lieferung des schwedischen Frühwarnflugzeugs Saab 340 AEW&C. Vielleicht können sich „die USA auch durchringen, modernere Muster als alte F-16A/B freizugeben“.
3 Friedensverhandlungen sind derzeit unrealistisch
In der EU setzen manche Politiker auf eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Ukrainekriegs. Ex-Linke Sahra Wagenknecht machte eine etwaige Koalition ihrer neuen Partei BSW nach den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland jüngst gar davon abhängig, ob sich der Koalitionspartner bundespolitisch „für Diplomatie und gegen Kriegsvorbereitung“ einsetzt. Doch Gressel sieht zumindest momentan keine Chance auf erfolgreiche Verhandlungen.
„Auf der russischen Seite wird man zunächst einmal abwarten, wer amerikanischer Präsident wird, wie es dort weitergeht, und was man dann eventuell bekommen könnte. Die Vorbedingungen, die Moskau derzeit für Verhandlungen stellt, sind ein klares Zeichen, dass man eigentlich nicht verhandeln will“, sagte der Experte dem Tagesspiegel.
Auf der ukrainischen Seite wiederum sieht Gressel einen möglichen Kompromiss mit Russland, der zum Beispiel im Verzicht auf besetzte Gebiete bestehen könnte, als innenpolitischen Zündstoff. Das größte Problem aber liege in der Durchsetzung eines möglichen Friedens mit dem Russland unter Wladimir Putin, „das noch jedes Abkommen und jeden Frieden gebrochen hat.“
„Biden und Scholz wollen die Ukraine nicht in der NATO haben. Bilaterale Sicherheitsgarantien will ihnen auch keiner geben – sie hätten ohne die USA ohnehin wenig Wert. Wer garantiert also einen neuen Frieden?“, so Gressel.
Auch sei der Westen weit davon entfernt, der Ukraine so viele Waffen zu liefern, dass eine drohende Niederlage Russlands die Verhandlungsbereitschaft Putins erhöhe. „In dieser Lage ist das ganze Gerede über Verhandlungen pure Spekulation von Sonntagsstrategen und Biertischdiplomaten.“
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