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Die Wiederaufnahme von Direktflügen nach Russland führte in Georgien am Wochenende zu Protestdemonstrationen.

© Action Press/Tass/Sergei Bobylev

Update

Proteste gegen Direktflüge nach Russland: Georgien sehnt sich nach einer zweiten Rosen-Revolution

Im Schatten des Ukrainekriegs strebt die große Mehrheit der Georgier in die EU. Sie misstrauen den Verbindungen ihrer Regierung nach Moskau – und fürchten eine neue russische Invasion.

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Georgien stellt Besucher vor Rätsel. Was man sieht und was man hört, passt nicht zusammen. Das Resümee nach ein paar Tagen in Anlehnung an einen berühmten Filmtitel des Regisseurs Rosa von Praunheim: Nicht die Georgier sind pervers, sondern die Situation, in der sie leben.

Die Landeshauptstadt Tiflis ist voller Graffiti mit unzweideutigen Botschaften: „Never back to the USSR“ und „Putin = Killer“ steht in Rot auf Hauswänden, flankiert von den blau-gelben Farben der Ukraine und EU-Fahnen mit dem goldenen Sternenkranz. Ob gesprayt oder als Stoffflaggen, die im Wind wehen: Sie sind so omnipräsent im Stadtbild wie die nationale Fahne mit den fünf roten Kreuzen auf silbrig-weißem Grund.

Umfragen bestätigen die pro-europäische Ausrichtung der kleinen, an Russland grenzenden Republik im Südkaukasus. Die EU genießt dort ein höheres Ansehen als in den meisten EU-Staaten. Über 80 Prozent der Bürger wollen ihr beitreten.

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Agentengesetz nach russischem Vorbild

Doch wie passt das zum Kurs der Regierungspartei „Georgischer Traum“? Die hat am 19. Mai Direktflüge zwischen Russland und Georgien wieder zugelassen. Das führte am Wochenende zu Protesten in Tiflis. Eier und Tomaten flogen auf die Firmenzentralen der Fluglinien, die die Verbindung anbieten.

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Im März hatte der „Georgische Traum“ versucht, ein „Agentengesetz“ zu verabschieden, wie man es aus Moskau kennt. Ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sollten sich als fremde Akteure registrieren, inländische ihre Zuwendungen aus dem Ausland beim Staat anmelden. Nach mehrtägigen Massenprotesten zog die Regierung das Projekt zurück.

Offen kann die Regierung nicht gegen den EU-Kurs arbeiten. Sie tut es versteckt und koordiniert ihr Vorgehen mit Russland.

Giorghi Vashadze, Oppositionsabgeordneter und ehemaliger Vize-Justizminister unter Präsident Mikhail Saakaschwili.

Dass die seit 2012 regierende Partei mit ihrem pro-russischen Kurs auf eine Wiederwahl im nächsten Jahr hofft, obwohl die große Mehrheit der Wähler sich EU und Nato anschließen möchte, scheint rätselhaft. Und nach einem Erfolgsrezept klingt es erst recht nicht.

Der Oppositionsabgeordnete und ehemalige Vize-Justizminister Giorghi Vashadze in den Jahren 2010 bis 2012 unter dem früheren Präsidenten Mikhail Saakaschwili erklärt den Widerspruch so: „Offen kann die Regierung nicht gegen den EU-Kurs arbeiten. Sie tut es versteckt und koordiniert ihr Vorgehen mit Russland, um die prowestliche Haltung der Bevölkerung zu untergraben.“

Außerdem schaffe sie Vorwände, die Zweifel an Rechtsstaat, Demokratie und der Freiheit der Medien wecken würden. „Das zwingt die EU, die Beitrittsperspektive zu verzögern“, sagt Vashadze.

Ex-Präsident Saakaschwili sitzt in Tiflis im Gefängnis. Er habe ernste Gesundheitsprobleme, dürfe aber nicht zur Behandlung in den Westen, sagt die Opposition. Auch das schade Georgiens Image in der EU.

Hinter dieser Politik stecke der milliardenschwere Oligarch Bidsina Iwanischwili und Gründer der Regierungspartei „Georgischer Traum“, behauptet Vashadze.

Er habe sein Vermögen in Russland verdient, sei der starke Mann im Hintergrund und fliege regelmäßig nach Moskau, um die nächsten Schritte abzusprechen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Georgiens von Russland nehme wieder zu.

Bidsina Iwanischwili, Gründer der Regierungspartei „Georgischer Traum“, hat sein Vermögen in Russland verdient.
Bidsina Iwanischwili, Gründer der Regierungspartei „Georgischer Traum“, hat sein Vermögen in Russland verdient.

© dpa/Ulf Mauder

Journalisten des Oppositionssenders Formula TV beklagen sich über die Einschüchterung und Verfolgung regierungskritischer Medien. Salome Ugulava, Chefredakteurin der Webseite des Senders, berichtet über Willkürurteile, die Richter seien Marionetten der Regierung.

Ein Journalist bekam ein Jahr Gefängnisstrafe, weil er einen Dienstwagen für private Zwecke genutzt haben soll. Die Regierungspartei behindere Oppositionsmedien bei der Arbeit und verweigere die Akkreditierung in Parlament und Ministerien.

Ein toter Kameramann nach einer LGTBQ-Demo

Manche fühlen sich seit dem 5. Juli 2021 ihres Lebens nicht mehr sicher. Bei einer Demonstration für die Rechte der LGBTQ-Community hatten rechte Schläger Journalisten angegriffen. Der verletzte Kameramann von Formula TV starb einige Tage später. Die Täter seien nicht belangt worden, obwohl es Beweisvideos gegeben habe.

Für Nikoloz Samkharadze, Abgeordneter der Regierungspartei „Georgischer Traum“ und Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im Parlament, sind das alles Verleumdungen und Verschwörungstheorien, um von der Schwäche der Opposition abzulenken.

Er war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, wurde in Hannover zum Ingenieur ausgebildet und leitet die deutsch-georgische Parlamentariergruppe. Die Regierung auf einem Kurs pro Russland? „Wir haben die euro-atlantische Integration in der Verfassung verankert.“

Die Erinnerungen an den Fünf-Tage-Krieg von 2008 sind sehr lebendig. Das darf sich nicht wiederholen.

Nikoloz Samkharadze, Abgeordneter der Regierungspartei „Georgischer Traum“.

Die Wiederaufnahme der Direktflüge nach Russland sei eine Entscheidung privater Fluglinien, die nicht unter die Sanktionen gegen Russland fallen. „Wir tragen alle internationalen Sanktionen mit, führen aber keine bilateralen ein.“

Das „Agentengesetz“? Es „ging um Transparenz“. Auch in Deutschland müssten NGOs ihre Finanzierung offenlegen. Es sei nicht gelungen, dies der Bevölkerung zu erklären.

27 Rundfunkstationen bei 3,7 Millionen Einwohnern

Einschüchterung der Oppositionsmedien? Der tote Kameramann „war ein tragischer Einzelfall, 45 Verdächtige wurden verhaftet“. Weitere Fälle von Gewalt gegen Journalisten kenne er nicht. Kein Medium sei in den vergangenen Jahren geschlossen worden. Eine Medienvielfalt wie in Georgien – 27 Rundfunkstationen bei 3,7 Millionen Einwohnern – sei beispielhaft.

Verweigerte Akkreditierungen? Das stimme nicht. Richtig sei: „Wir treten nicht in Talkshows auf, in denen wir persönlich beleidigt und zum Beispiel als ,Putins Puppe‘ diffamiert werden. Hier im Parlament geben wir Oppositionsmedien Interviews.“

Genüsslich empfiehlt Samkharadze eine BBC-Sendung über den Gründer des Oppositionssenders Formula TV, Davit Kezerashvili. Der ehemalige Verteidigungsminister habe sein Geld mit einem globalen Betrugssystem verdient.

Russische Panzer brauchen 20 Minuten bis Tiflis

Nach Samkharadzes Darstellung erklärt sich das Regierungshandeln aus der gebotenen Vorsicht gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Russische Panzer könnten Tiflis in 20 Minuten erreichen. Und in noch kürzerer Zeit den Verkehr auf dem Ost-West-Highway unterbrechen und das Land teilen. „Jede Eskalation kann einen Krieg auslösen.“

Die Erinnerungen an den Fünf-Tage-Krieg von 2008 seien „sehr lebendig“. Seither stehen russische Truppen in Abchasien und Südossetien. „250.000 Georgier wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Das darf sich nicht wiederholen.“

Georgiens Regierung sei nicht pro-russisch, betont Samkharadze. Und auch nicht neutral im Ukrainekrieg,. „Hunderte unserer Bürger kämpfen dort auf eigene Faust. 35 sind gefallen. Die haben wir mit allen Ehren bestattet. Aber wir können die Ukraine nicht militärisch unterstützen. Wir haben selbst nicht genug Waffen.“

Die Bürger trauen weder Regierung noch Opposition

Die große Mehrheit der Bürger glaubt weder der Regierung noch der Opposition. Sie reagieren genervt auf die polarisierenden Zerrbilder, mit der die beiden Lager für sich werben und den Gegner diskreditieren. Nur 19 Prozent würden „Georgiens Traum“ wählen, 34 Prozent sagen: unter keinen Umständen. Die oppositionelle „Vereinte Nationale Bewegung“ steht noch schlechter da: 14 Prozent würden sie wählen, 39 Prozent unter keinen Umständen. 78 Prozent wünschen sich jüngere Personen in der Politik.

Oder gleich „eine zweite Rosen-Revolution“, die die politischen Verhältnisse umkrempelt, schwärmen Studenten der Universität Tiflis. Wie 2003, als Demonstranten mit Rosen in den Händen wochenlang gegen mutmaßliche Wahlfälschung protestierten, schließlich das Parlament stürmten und den damaligen Präsidenten Eduard Schewardnadse zum Rücktritt zwangen.

Und was wünschen sich die Studenten von der EU, die zum Jahresende entscheiden soll, ob Georgien offiziell Beitrittskandidat wird? „Nach meinem Gefühl erfüllt Georgien die Bedingungen noch nicht“, sagt Maria.

„Aber ich hoffe, dass die EU uns trotzdem den Kandidatenstatus gibt. Wenn nicht, wird Russland das als Signal verstehen, dass es mit uns machen kann, was es will.“ Zwischen Wunsch und Wirklichkeit in Georgien klaffen Widersprüche.

(Zu der Informationsreise durch Georgien hatte der German Marshall Fund eingeladen.)

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