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Proteste nach dem Zugunglück mit 57 Toten: Haben griechische Ermittler die Unfallursache vertuscht?
Nach dem Zusammenstoß zweier Züge vor zwei Jahren gibt es Hinweise, dass der Tatort bewusst verändert wurde. Auch Beweise sind verschwunden.
Stand:
„Ich kriege keine Luft mehr.“ Die letzten Worte einer jungen Frau, aufgezeichnet am 28. Februar 2023 in einem Anruf an den Rettungsdienst, erschüttern Griechenland bis heute. Die 20 Jahre alte Studentin Franzesca Mpeza starb infolge des Zugunglücks bei Tempi, etwa 400 Kilometer nördlich der Hauptstadt Athen.
An diesem Freitag, zwei Jahre nach der Katastrophe, stand das Land buchstäblich still. Wut und Trauer führten zu einem der größten Streiks, bei dem Transportunternehmen ihre Dienste einstellten. Schulen, Gerichte, Geschäfte, sogar Tavernen und Clubs blieben geschlossen.

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In mehr als 250 Städten und Dörfern in ganz Griechenland (und 115 weiteren auf der ganzen Welt) protestierten Hunderttausende gegen den Umgang der Regierung mit der schlimmsten Zugkatastrophe in der Geschichte des Landes und forderten Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Angehörigen.
Bei der größten Demonstration, die es je in Athen gab, hielten Menschen jeden Alters – und nicht unter der Fahne einer Partei oder Gewerkschaft – Transparente mit Aufschriften wie „Wir werden nicht vergessen“; in Sprechchören hallte „Mörder, Mörder“ über den Syntagma-Platz im Zentrum Athens.
Umfragen zeigen Unzufriedenheit in der Bevölkerung
Es war kurz vor Mitternacht am 28. Februar 2023, als ein Personenzug voller Studenten in der Nähe der Stadt Tempi mit einem Güterzug kollidierte und 57 Tote – hauptsächlich Universitätsstudenten – und mehr als 80 Verletzte forderte. Bis heute wurde noch niemand zur Rechenschaft gezogen.
Die öffentliche Empörung wächst seit Monaten: Sieben von zehn Griechen glauben, dass es einen Versuch gab, die Ursache für die Tragödie zu vertuschen. Eine neue Umfrage des Pulse-Instituts verdeutlicht die große Unzufriedenheit mit dem Umgang der Regierung mit dem Zugunglück, das auch zwei Jahre später noch immer ein bestimmendes politisches Thema ist.
Der Befragung zufolge glauben 66 Prozent, dass die Untersuchung kaum oder gar keine Fortschritte gemacht hat, während 82 Prozent die Katastrophe als eines der wichtigsten nationalen Anliegen der Gegenwart betrachten.
Zugsignalsystem sollte mit EU-Geldern modernisiert werden
Die Frustration in der Öffentlichkeit ist besonders bei jüngeren Wählern groß. Neun von zehn Befragten im Alter von 17 bis 44 Jahren sind zutiefst unzufrieden mit der parlamentarischen Untersuchung, die bis jetzt zu keinem Ergebnis geführt hat. Angehörige der Opfer und Oppositionsparteien kritisieren das Verfahren und werfen der Regierung vor, wichtige Erkenntnisse zu vertuschen und die Untersuchung effektiv zu behindern.

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Für Unmut sorgen auch die Kommunikationsfehler, die die Regierung gemacht hat. Kurz nach dem Unglück war Verkehrsminister Kostas Karamanlis zurückgetreten – aus „Respekt vor dem Andenken der Menschen, die zu Unrecht gestorben sind“. Nur wenige Monate später kandidierte er jedoch für die regierende Partei „Neue Demokratie“ und wurde als Abgeordneter wiedergewählt.

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In der Zwischenzeit hat die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Karamanlis und seinem Vorgänger Christos Spirtzis wegen des Verdachts auf Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem sogenannten Vertrag 717 beantragt. Dahinter steckt ein teilweise von der EU finanziertes Projekt zur Einrichtung eines voll funktionsfähigen Fernsteuerungs- und Signalsystems für den Verkehr auf der Eisenbahnstrecke Athen-Thessaloniki. Nun fragen sich viele: Wurde das je korrekt umgesetzt?
Premierminister Kyriakos Mitsotakis schloss in einem Fernsehinterview wenige Wochen nach dem Unfall – und bevor die Ergebnisse einer Untersuchung bekannt gegeben wurden oder ein Gericht ein Urteil gefällt hatte –vorschnell jegliche Vertuschung aus und konzentrierte sich nur auf das menschliche Versagen eines Bahnhofsvorstehers. Ein Jahr später legte er nach und sprach von „Verschwörungstheorien“ rund um den Brand.

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Vor etwa 20 Tagen schien Mitsotakis in einem neuen Interview weniger sicher über die Fracht des Güterzugs zu sein und lehnte es ab, irgendwelche Möglichkeiten auszuschließen. Er räumte auch ein, dass nach dem Unfall „vor Ort“ Fehler gemacht wurden, und gab zu, dass die parlamentarische Untersuchung zur Katastrophe „keine Sternstunde“ des Parlaments gewesen sei.
Neuer Untersuchungsbericht kritisiert Regierung
Am Donnerstag dieser Woche wurde schließlich ein lang erwarteter Untersuchungsbericht veröffentlicht. Den Experten zufolge gingen aufgrund der unsachgemäßen Behandlung der Unfallstelle in Tempi entscheidende Informationen verloren.
Die Nationale Organisation für die Untersuchung von Flug- und Eisenbahnunfällen (EODASAAM) hoben diesen Aspekt explizit in ihrer Präsentation hervor: „Was passiert ist – dass Beweise innerhalb von drei Tagen vernichtet wurden – darf nie wieder passieren“, erklärte der leitende Ermittler der EODASAAM, Kostas Kapetanidis.
Was passiert ist – dass Beweise innerhalb von drei Tagen vernichtet wurden – darf nie wieder passieren.
Kostas Kapetanidis, Ermittler der Nationale Organisation für die Untersuchung von Flug- und Eisenbahnunfällen
Zusammengefasst stellt der Bericht Behörden wie Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus. Bei den unzureichenden Ermittlungen handelt es sich demnach um eine Mischung aus Systemversagen, menschlichem Versagen, mangelnder Aufsicht, einem unorganisierten Verfahren und fehlender Koordination.
Spuren wurden verwischt
„Wichtige Informationen gingen verloren, weil der Unfallort nicht abgesperrt war und es damals noch keine Behörde wie EODASAAM [die erst nach dem Absturz von Tempi gegründet wurde, Anm. d. Red.] gab, die die Untersuchung leiten konnte“, bemerkte Christos Papadimitriou, Direktor der Organisation.
Darüber hinaus könnte die Verwendung von schwerem Gerät auf den Trümmern Spuren von Flüssigkeiten und Materialien verwischt haben, die zur Explosion beigetragen haben, bei der vermutlich fünf bis sieben der insgesamt 57 Opfer ums Leben kamen, während die übrigen durch den Aufprall starben. Die Entscheidung, das Wrack zu räumen und an einem anderen Ort zu transportieren, wird ebenfalls als ein Faktor für den Verlust wichtiger Informationen angesehen.

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Was die Ursache des Unfalls betrifft, so beschreibt der Bericht, wie ein unzureichend ausgebildeter Bahnhofsvorsteher am unterbesetzten Bahnhof der Stadt Larissa versehentlich beide Züge auf dasselbe Gleis leitete, obwohl sie in entgegengesetzte Richtungen fuhren.
Der Bericht von EODASAAM bestätigt auch Bedenken, dass eine „unbekannte“ (und wahrscheinlich illegal transportierte) Substanz, wie Benzin, bei der massiven Explosion und dem anschließenden Verlust von Menschenleben eine Rolle gespielt haben könnte.
„Aufgrund der vorliegenden Beweise ist es jedoch unmöglich festzustellen, was genau den Brand verursacht hat, aber Simulationen und Expertenberichte deuten auf die mögliche Anwesenheit eines bisher unbekannten Brennstoffs hin“, heißt es in dem Bericht.
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