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Selenskyj im UN-Sicherheitsrat: „Vetorecht des Angreifers hat UN an toten Punkt geführt“
Der Rat müsse Russland sein Vetorecht aberkennen, fordert Selenskyj vor dem UN-Gremium. Ein Showdown mit Putins Außenminister Lawrow bleibt aus.
Stand:
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates eine Machtlosigkeit der Vereinten Nationen (UN) beklagt und die Aberkennung Russlands Vetorechts gefordert. „Das Vetorecht in den Händen des Angreifers hat die UN an einen toten Punkt geführt“, sagte er in New York. Außerdem verlangte Selenskyj ein System, mit dem frühzeitig auf Angriffe auf die Souveränität anderer Staaten reagiert werden kann.
„Es ist an der Zeit, dass sich die Nationen der Welt auf einen solchen Mechanismus zur Reaktion auf Aggressionen zum Schutz anderer einigen, den sich jeder für seine eigene Sicherheit wünschen würde“, sagte Selenskyj am Mittwoch (Ortszeit) nach der offiziellen englischen Übersetzung in seiner auf Ukrainisch gehaltenen Rede. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) griff Russland in der Sitzung scharf an.
Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlene Invasion in der Ukraine habe gezeigt, welchen Nutzen ein solcher Mechanismus haben könne und welche Auswirkungen mächtige Sanktionen gegen einen Aggressor hätten – in der Phase des Aufbaus der Invasionsarmee. „Wer einen Krieg beginnen will, sollte vor seinem fatalen Fehler sehen, was genau er verlieren wird, wenn der Krieg beginnen würde.“
Selenskyj wirft Russland Völkermord vor
Selenskyj warf Russland einen „verbrecherischen und unbegründeten“ Angriff auf sein Land vor. Russland wolle sich das Territorium und die Ressourcen der Ukraine einverleiben. Wie bereits bei seiner Rede am Dienstag vor der UN-Vollversammlung in New York sprach Selenskyj auch in der Sicherheitsratssitzung von einem „Völkermord“.

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Die Frage der Anwendung solcher Präventivsanktionen solle automatisch dem UN-Sicherheitsrat zur Prüfung vorgelegt werden, wenn ein Mitglied der UN-Generalversammlung eine Aggressionsdrohung melde, sagte der Ukrainer.
Gleichzeitig beklagte der ukrainische Präsident eine Machtlosigkeit der UN. Diese reagierten auf Probleme mit „Rhetorik“ anstatt mit „echten Lösungen“, sagte Selenskyj. „Die Menschheit setzt ihre Hoffnungen nicht mehr auf die UN, wenn es um die Verteidigung der souveränen Grenzen der Nationen geht.“
Selenskyj kritisierte auch, das Vetorecht Russlands habe die UN in eine Sackgasse geführt. Die UN-Generalversammlung müsse eine Befugnis erhalten, um ein solches Veto zu überwinden. Der ukrainische Präsident sprach sich auch dafür aus, Russland sein Vetorecht im Sicherheitsrat abzuerkennen.
Zugleich warb er für einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat. „Deutschland ist zu einem der wichtigsten globalen Garanten für Frieden und Sicherheit geworden“, sagte Selenskyj. „Dies ist eine Tatsache. Fakt ist auch, dass Deutschland einen Platz unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates verdient, dass Lateinamerika dort dauerhaft vertreten sein muss und auch die pazifischen Staaten.“
Auch die Afrikanische Union müsse ihren Platz in dem wichtigsten UN-Gremium haben. Asien verdiene ebenfalls eine stärkere Präsenz. „Es kann nicht als normal angesehen werden, wenn Länder wie Japan, Indien oder die islamische Welt von der ständigen Mitgliedschaft in dem Gremium ausgeschlossen bleiben.“ Es sei ungerecht, wenn Milliarden Menschen dort nicht repräsentiert seien.
Unzählige ukrainische Kinder sind entführt worden. Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert.
Olaf Scholz, Bundeskanzler (SPD)
Nach seiner fünfzehnminütigen Rede verließ Selenskyj, der ein olivgrünes langärmeliges Hemd trug, den Saal und damit die laufende Sitzung wieder.
Scholz forderte in der Sitzung einen umfassenden Frieden für die Ukraine auf Grundlager der UN-Charta. „Es ist fast 19 Monate her, dass Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen seinen souveränen Nachbarn, die Ukraine, begonnen hat. Zehntausende Soldatinnen und Soldaten sowie ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten sind getötet worden. Unzählige ukrainische Kinder sind entführt worden. Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert.“

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Die Vollversammlung der Vereinten Nationen habe zu einem „umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden aufgerufen“, sagte Scholz in seiner ersten Rede vor dem UN-Sicherheitsrat. „Diese Aufforderung richtet sich an Russland. Bis heute wurde sie nicht beantwortet. Nichts tönt heute lauter als Russlands Schweigen als Reaktion auf diesen globalen Friedensappell.“
US-Außenminister Blinken geht Russland scharf an
Bei der Sicherheitsratssitzung ging auch US-Außenminister Antony Blinken hart mit Russland ins Gericht. „Russland begeht in der Ukraine fast täglich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagte Blinken.
Lawrow blieb Sitzung bei Selenskyjs Rede fern
Zu Beginn der Sicherheitsratssitzung hatte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensia Kritik daran geäußert, dass Selenskyj – nach UN-Generalsekretär Antonio Guterres – als erster das Wort ergreifen durfte. Das werde die Sitzung in eine „Ein-Mann-Standup-Show“ verwandeln.
Der albanische Regierungschef Edi Rama, der die Sitzung leitete, entgegnete kühl: „Es gibt eine Lösung dafür, wenn Sie einverstanden sind. Sie beenden den Krieg – und Präsident Selenskyj wird nicht das Wort ergreifen.“
Guterres erklärte im Sicherheitsrat, Russlands habe mit dem Krieg in der Ukraine die geopolitischen Spannungen verschärft und tiefe Risse in der zunehmend multipolaren Welt verursacht.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow war der mit Spannung erwarteten Sitzung zunächst fern geblieben. Später sprach auch Lawrow, bei seinen Ausführungen war Selenskyj nicht anwesend. Zu einem Showdown der beiden im Saal und zu einem ersten öffentlichen Aufeinandertreffen der beiden seit Kriegsbeginn kam es daher nicht.

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Lawrow warf dem Westen im UN-Sicherheitsrat vor, für erhöhte globale Risiken verantwortlich zu sein. Die USA und ihre Partner hätten sich seit dem Fall der Sowjetunion in die Politik in der Ukraine eingemischt und eine prowestliche Politik in Kiew erzwungen.
Lawrow erhob in seiner rund 25-minütigen Rede schwere Vorwürfe gegen die Ukraine. Kiew habe „rassistische Gesetze“ gegen Russen in der Ukraine beschlossen. Außerdem sei die Führung in Kiew in der Hand von „Neo-Nazis“.
Dem Sicherheitsrat gehören derzeit 15 der 193 UN-Mitgliedstaaten an. Fünf Atommächte sind ständig dabei und haben Vetorecht bei allen Entscheidungen: die USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich. Einige der anderen 188 Mitgliedstaaten wechseln sich auf den verbleibenden zehn Sitzen alle zwei Jahre ab. Deutschland bewirbt sich alle acht Jahre für einen Sitz, das nächste Mal für 2027/28.
Scholz, der die Rede Selenskyjs im Sicherheitsrat verfolgte, hatte sich am Dienstagabend in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung ebenfalls für eine UN-Reform starkgemacht, sich aber diesmal nicht offensiv für einen ständigen Sitz Deutschlands eingesetzt.
Klar sei, dass Afrika, Asien und Lateinamerika mehr Gewicht in dem Gremium gebühre. „Unter dieser Prämisse lässt sich über einen Text mit verschiedenen Optionen verhandeln. Solche ergebnisoffenen Verhandlungen sollte kein Land mit Maximalforderungen blockieren. Auch wir tun das nicht.“
Seit Jahren gilt das Gremium wegen gegenseitiger Blockaden der USA, Chinas und Russlands in zentralen Fragen als weitgehend handlungsunfähig. Über eine grundlegende Reform des Sicherheitsrats wird seit Jahrzehnten diskutiert, ohne dass es Fortschritte gibt. (dpa, AFP, Reuters)
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