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Ukrainischer Militärexperte zu Russlands Eroberungen: „Wir werden Tschassiw Jar verlieren – die Frage ist nur, wann“
Aus Moskau heißt es, man habe die strategisch wichtige Stadt bereits eingenommen. Das ukrainische Militär widerspricht. Allerdings: Die vollständige Eroberung könnte nur noch eine Frage der Zeit sein.
Stand:
Die russische Armee hat nach mehr als einem Jahr schwerer Kämpfe eigenen Angaben zufolge die Kleinstadt Tschassiw Jar im ostukrainischen Gebiet Donezk erobert. Das geht aus einer Presseerklärung des russischen Verteidigungsministeriums hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurde.
„Nach den Offensivaktionen der Truppengruppierung ‚Süd‘ in Richtung Kramatorsk wurde die Stadt Tschassiw Jar in der Volksrepublik Donezk befreit“, heißt es darin. Zeitgleich verbreiteten Moskauer Militärblogger Videos, in denen Soldaten russische Flaggen im Westteil der Stadt hissten.
Ukrainisches Militär dementiert Russlands Eroberung
Eine ukrainische Bestätigung für die vollständige Eroberung gibt es bislang nicht. Der Sprecher der operativ-strategischen ukrainischen Truppengruppierung „Chortyzja“, Wiktor Trehubow, widersprach den Angaben Moskaus indes vehement.
Der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine gegenüber bezeichnete er die russischen Eroberungsbehauptungen als „Informationsfälschung“. „Die Lage in Tschassiw Jar ist dieselbe wie in den letzten Monaten. Die Russen lügen erneut – mit dem Ziel, dass sich ihre Meldung weiter verbreitet – und sei es auch nur im Rahmen von Dementis“, so Trehubow.
Ein namentlich nicht genannter ukrainischer Militärsprecher sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass Moskaus Meldung „natürlich nicht wahr“ sei und eine „komplette Lüge“ darstelle. Beim Generalstab in Kiew tauchte die Kleinstadt in Berichten zuletzt vor knapp zwei Wochen auf. Ukrainische Militärbeobachter kennzeichnen in ihren Karten größere westliche Teile der Stadt als weiter unter ukrainischer Kontrolle stehend.
Auch die Militäranalyseplattform DeepState sieht keine Belege für eine vollständige Besetzung durch russische Truppen. Die DeepState-Karte mit Stand vom 31. Juli zeigt, dass die westlichen Stadtränder sowie der Süden von Tschassiw Jar nach wie vor von ukrainischen Kräften gehalten werden.
Die US-amerikanische Denkfabrik „The Institute for the Study of War“ (ISW) berichtete auf Grundlage von geolokalisierten Aufnahmen, dass „russische Streitkräfte wahrscheinlich den größten Teil der Siedlung eingenommen haben.“ Zwar sei die Stadt noch nicht vollständig erobert, allerdings könnten die Angreifer „die Einnahme von Tschassiw Jar voraussichtlich in den kommenden Tagen abschließen“, so die Miliräranalysten.
Militärexperte: Einnahme nur noch eine Frage der Zeit
Der ukrainische Militäranalyst Olexander Kowalenko meint, es sei noch zu früh, um von einer vollständigen russischen Eroberung Tschassiw Jars auszugehen. Allerdings räumt er ein, dass Russlands Vorstöße in dieser Region enorm sind.
„Die Lage ist in der Tat sehr schwierig. Faktisch hat Russland bereits den wichtigsten Teil der Stadt eingenommen und dringt nun in die westlichen Bezirke von Tschassiw Jar ein“, berichtet Kowalenko dem Tagesspiegel. Ukrainische Truppen halten indes immer noch einzelne, kleinere Abschnitte im Westen der Stadt. Bis die Russen diese Gebiete unter ihre Kontrolle bringen, dürfte es „noch einige Zeit dauern“.

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Dem Experten zufolge hat Russland die Einnahme der ukrainischen Stadt „bewusst verfrüht verkündet, um psychologischen Druck auszuüben“. Dieses Verhalten seitens des Kreml habe man bereits mehrfach beobachtet – zuletzt beispielsweise im Januar 2025, als Torezk unter russischer Kontrolle stehen sollte, obwohl noch heftige Straßenkämpfe stattfanden.
Weil Tschassiw Jar infolge der monatelangen Kämpfe fast vollständig zerstört wurde, „wird dort faktisch in Ruinen gekämpft“, so Kowalenko. „Das heißt, wir werden Tschassiw Jar offensichtlich verlieren – die Frage ist nur, wann.“ Die jüngsten Vorstöße seien Bestandteil von Russlands Strategie zur Einnahme von Kostjantyniwka.
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Tschassiw Jar von strategischer Bedeutung
Die Stadt Tschassiw Jar liegt strategisch günstig zwischen Bachmut und Kostjantyniwka auf einer Anhöhe. Bereits im April vorigen Jahres hatten die Kämpfe um die Stadt begonnen, in der vor dem Krieg etwas mehr als 12.000 Menschen lebten.
Eine Eroberung würde den russischen Truppen den Weg in Richtung der nur wenige Kilometer entfernten Industriestadt Kostjantyniwka frei machen. Auch die beiden von der Ukraine kontrollierten Städte Druzhkiwka und Kramatorsk könnten durch die Einnahme von Tschassiw Jar in die Reichweite russischer Artillerie geraten.
Kowalenko präzisiert: „Tschassiw Jar spielt hier eine entscheidende Rolle, denn es sind nur noch sieben Kilometer bis Kostjantyniwka. Bei einer Einnahme könnten die Russen diese Stadt mit Rohrartillerie erreichen.“ (mit dpa)
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