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Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die sicherheitsbezogene Stimmung in der europäischen Bevölkerung verändert.
© imago/Stefan Boness

Umfrage zu Bedrohungslage: Das gegenseitige Vertrauen in der EU bröckelt

Was eint Europa – und was spaltet es? Die sicherheitspolitische Stimmungslage vor und nach dem Krieg im länderübergreifenden Vergleich lässt vier zentrale Schlussfolgerungen zu.

Ein Gastbeitrag von Christos Katsioulis

Christos Katsioulis leitet das Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine paradoxe Wirkung auf die Europäische Union. Die EU ist einerseits näher zusammengerückt, hat entschlossen mit einer Reihe von Sanktionspaketen die russische Aggression bestraft und europäische Instrumente flexibel angepasst, um die ukrainischen Streitkräfte schnell zu bewaffnen und auszubilden.

Andererseits haben die Gräben zwischen den Mitgliedstaaten zugenommen. Was sie trennt, ist nicht so sehr die Bedrohungsanalyse, sondern vielmehr die Frage, wie mit der neuen sicherheitspolitischen Situation umzugehen ist.

Bevölkerungsumfragen unterstreichen diese gegenläufigen Tendenzen, die der Krieg ausgelöst hat. Der neue Security-Radar 2023 der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt dies deutlich. Dafür haben wir im Herbst 2021 und 2022 Menschen in Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen befragt und können somit die Stimmungslage vor und nach dem Krieg länderübergreifend vergleichen. Die Meinungsbilder lassen vier zentrale Schlussfolgerungen zu.

Der russische Angriffskrieg wirkt auf die EU paradoxerweise gleichzeitig als Schmelztiegel und Spaltpilz.

Christos Katsioulis

Erstens, die Bedrohungswahrnehmungen, Ängste und Feindbilder haben sich einander angenähert. Während 2021 noch ein klar unterschiedliches Bild von Russland zu beobachten war – in Polen und Lettland deutlich besorgter als in Deutschland und Frankreich –, gibt es hier 2022 eine deutliche Annäherung. Auch bei Ängsten und Sorgen vor Krieg sind Ost und West in Europa zusammengewachsen.

Das gegenseitige Vertrauen in der EU nimmt ab

Zweitens zeigt sich eine hohe Konvergenz im aktuellen Umgang mit dem Aggressor. In allen vier Ländern gibt es deutlichen Zuspruch zu verschärften Sanktionen und einer Verringerung der Abhängigkeit von Russland. Überraschenderweise ist auch das Meinungsbild zu Waffenlieferungen im Vergleich sehr ähnlich, überall halten sich Befürworter und Gegner etwa die Waage. Selbst in Polen sind zwar 42 Prozent der Befragten für Waffenlieferungen, aber 36 Prozent dagegen. Die Entsendung von Truppen wird von breiten Mehrheiten abgelehnt.

Drittens werden in den Bevölkerungsbefragungen die strategischen Risse in Europa sichtbar. Das betrifft zum einen den Umgang mit China. Die Reduktion der Abhängigkeiten von China wird in Deutschland und Frankreich als dringlicher betrachtet als in Polen und Lettland. Dies birgt Konfliktpotenzial vor dem Hintergrund einer Verschärfung der Konflikte mit Peking.

Ein weiterer strategischer Riss ist die Frage des Beitritts der Ukraine zu EU und Nato. Hier sind wiederum die Befragten in Deutschland und Frankreich deutlich skeptischer als in Polen und Lettland. An dieser Schlüsselfrage zeigen sich die unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie Sicherheit in Europa künftig organisiert werden soll. Auffällig ist allerdings auch, dass in allen vier Ländern eine europäische Armee mehrheitlich unterstützt wird. 

Viertens, und das ist der problematischste Befund der Umfrage, wird sichtbar, wie fragil das Fundament des Vertrauens zwischen europäischen Partnern ist. Das Trio aus Deutschland, Frankreich und Polen, das einst als „Weimarer Dreieck“ zum neuen Kraftzentrum der EU werden sollte, zeigt ein besorgniserregendes Bild.

36
Prozent der Befragten in Polen sind gegen Waffenlieferungen.

Während das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich noch eine belastbare Vertrauensbasis aufweist, herrscht im deutsch-polnischen Verhältnis tiefes gegenseitiges Misstrauen. Polnische Befragte sehen Deutschland sogar als Bremser der gemeinsamen Sicherheitspolitik.

Fragen der europäischen Integration stehen im Fokus

Damit droht die Kooperation dieser drei Schlüsselländer dysfunktional zu werden und die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem handlungsfähigen Akteur in der Sicherheitspolitik zu verzögern. Der gewünschte Aufbau einer europäischen Armee könnte daran scheitern. Denn gerade in diesem Bereich der europäischen Integration ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten eine unabdingbare Voraussetzung für jeden weiteren Schritt.

Der russische Angriffskrieg wirkt auf die EU paradoxerweise gleichzeitig als Schmelztiegel und Spaltpilz. Kurzfristig ist Einigkeit hergestellt worden, das gilt für die Wahrnehmung Russlands als Aggressor und potenziell gefährlicher Akteur für Europa ebenso wie für den unmittelbaren Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Erstaunlicherweise ähneln sich die Meinungsbilder hier mehr, als es die Schlagzeilen der vergangenen Monate vermuten lassen.

Gleichzeitig werden die innereuropäischen Konflikte noch zunehmen, vor allem wenn es darum geht, wie genau die gemeinsame Nachbarschaft gestaltet werden soll. Die Spitze des Eisbergs ist dabei die unmittelbar im Raum stehende Frage des Beitritts der Ukraine zu Nato und EU.

Wie die Debatten rund um die Lieferung von Kampfpanzern, aber auch unsere Umfrage gezeigt haben, werden diese Auseinandersetzungen in einem Klima tiefen gegenseitigen Misstrauens stattfinden. Damit rückt eine handlungsfähigere EU mit eigener Armee in weite Ferne, wenn keine mutigen politischen Initiativen gestartet werden.

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