zum Hauptinhalt
Der Chef der rechtsextremen Freiheitlichen Partei (FPÖ), Herbert Kickl (li.), und der Interimschef der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Christian Stocker

© AFP/ALEX HALADA

Umstrittene Kickl-Koalition in Österreich: Wie es zur Kehrtwende von ÖVP-Chef Stocker kam

Bis vor kurzem galt die rechte FPÖ unter Herbert Kickl für die ÖVP als No-Go. Doch jetzt streben die Konservativen eine Koalition an. Wie konnte es dazu kommen?

Stand:

Christian Stocker ist fast am Ende seiner Redezeit in den Räumen des Wiener Parlaments angelangt, als er sich nach den Zwischenrufen durch FPÖ-Abgeordnete direkt an deren Chef wendet. „Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie niemand“, sagt der ÖVP-Politiker. Genau dazu würden die Koalitionsverhandlungen dienen, die seine konservative Partei mit Sozialdemokraten und liberalen Neos führe.

Die Kamera schwenkt zu Herbert Kickl. Er lächelt, lehnt sich entspannt in seinen Stuhl zurück. Als würde er schon ahnen, dass diese Verhandlungen knapp drei Wochen später Geschichte sein werden. So ist es auch gekommen.

Zuerst gingen die Neos, dann brach die ÖVP binnen 24 Stunden die Gespräche mit der SPÖ ab – Bundeskanzler und ÖVP-Parteichef Karl Nehammer (ÖVP) trat zurück. Österreich stand vor einem politischen Scherbenhaufen. Plötzlich steht Christian Stocker, der Kickl zuvor noch als „Sicherheitsrisiko“ verdammte, vor den Fernsehkameras und erklärt, dass die Lage eine andere sei.

Der 64 Jahre alte Rechtsanwalt, der bis Anfang des Jahres noch ÖVP-Generalsekretär war, avancierte zum neuen Parteichef und Gesicht einer Metamorphose, die über Österreichs Grenzen hinaus für Staunen sorgt.

Die Brandmauer ist längst niedergerissen

Um diese zu verstehen, braucht es einen Rückblick in die österreichische Geschichte: 1983 wurde die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) von der SPÖ in eine kleine Koalition geholt. Drei Jahre später kam Jörg Haider und machte die ehemals Fünf-Prozent-Partei groß. Sodass sie 2002 von der ÖVP in die Regierung geholt wurde – was international für Kritik sorgte. Der 2008 verstorbene Haider galt als Paria, der bewusst Tabus brach.

Das Vorhaben der ÖVP, ihn und seine Partei kleinzuhalten, endete in Zank und Bruch. Genauso wie die letzte Regierungsbeteiligung der FPÖ 2017, die an der „Ibiza-Affäre“ zerbrach.

Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (r.) holte 2002 die FPÖ in die Regierung. Hier sitzt er als Beifahrer von Vizekanzler Jörg Haider (FPÖ) im offenen Porsche. Haider kam 2008 bei einem Autounfall ums Leben.

© dpa/APA/Gert Eggenberger

Ungeachtet dessen wurde in den Bundesländern immer wieder miteinander koaliert. In Vorarlberg, Salzburg, Ober- und Niederösterreich regiert die FPÖ mit den Konservativen. In der Steiermark stellt sie seit kurzem den Landeshauptmann. Dagegen regt sich kaum Protest. Die Zusammenarbeit hat zu einer Normalisierung geführt – Skandale hin oder her. Bei der Parlamentswahl im September kamen die Freiheitlichen mit 28,9 Prozent auf Platz eins.

Die FPÖ ist in Österreich längst zur Normalität geworden, sagt Julia Neuhauser, stellvertretende Leiterin des Innenpolitik-Ressorts der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. „Die Brandmauer, so wie sie in Deutschland gegenüber einer AfD hochgehalten wird, existiert in Österreich gegenüber der FPÖ nicht. Man ist die Zusammenarbeit in gewisser Weise schon gewöhnt.“ 

Neu ist aber, dass die FPÖ erstmals den Bundeskanzler stellen könnte und die ÖVP Juniorpartner wäre. Und das unter Herbert Kickl, der die Partei weit an den rechten Rand gerückt hat. „In der letzten Regierung hat die FPÖ versucht, nicht an den Identitären anzustreifen, um nach außen das Bild zu wahren, dass es keine Verbindungen gebe. Kickl wiederum hat gesagt, dass sie eine NGO von rechts seien.“    

Auch deswegen stellen sich Beobachterinnen und Beobachter die Frage, warum die Konservativen sich für diese Option entschieden haben. Immerhin liegen jetzt auch ihre Grundsätze zur liberalen Demokratie mit auf dem Verhandlungstisch. Zudem hätten sie in einer anderen Koalitions-Variante, wie etwa einem Dreierbündnis, das Kanzleramt haben können.

Die neue Erzählung: Es geht nicht um uns

Christian Stocker ist nun jener Mann, der in zahlreichen Interviews diese Frage beantworten muss. Seine Erzählung: Es gehe jetzt nicht um die Partei, sondern um das, was getan werden müsse – neben einem klaffenden Budgetloch gebe es zig andere Gefahren von Krieg bis Teuerung, denen eine handlungsfähige Regierung beikommen müsse.

Geändert hat sich nur, dass ich jetzt etwas anderes mache, als ich vorher gesagt habe – und mit ihm in Verhandlungen gehe.

Christian Stocker zu seiner Meinungs-Kehrtwende zu Herbert Kickl

An seiner Meinung zu Kickl habe sich nichts geändert. „Geändert hat sich nur, dass ich jetzt etwas anderes mache, als ich vorher gesagt habe – und mit ihm in Verhandlungen gehe“, sagte er kürzlich der Zeitung „Standard“. Auch er fürchte um seine Reputation und um Vertrauen, das er vielleicht verspielt habe.

Dazu muss man wissen: Es gab kaum jemanden in der ÖVP, der zuletzt so eine große Rolle bei der Abwehr von Herbert Kickl spielte wie Stocker.

Christian Stocker (ÖVP) muss derzeit viele unangenehme Fragen beantworten.

© AFP/ALEX HALADA

In der letzten Koalition, in der Kickl Innenminister war, hat ihn der damalige ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz im Zuge der Ibiza-Affäre dem Bundespräsidenten zur Entlassung vorgeschlagen. Die ÖVP gab die Losung aus: Mit Kickl könne man nicht mehr zusammenarbeiten – diese Linie wollte man durchziehen.

Wer ist Christian Stocker?

Stocker konnte dies, wie kein Anderer. Der Rechtsanwalt stammt aus Wiener Neustadt, eine 48.000-Einwohner-Stadt nahe Wien, und ist seit mehr als 30 Jahren in der Kommunalpolitik aktiv.

Er war schon oft gefragt, wenn es „politisch brennt“ und gilt als uneitel. Im Korruptionsuntersuchungsausschuss, der die Machenschaften seiner Partei aufdecken sollte, verteidigte er die ÖVP vehement. Und als die ÖVP-Generalsekretärin 2022 das Handtuch warf, fing er es auf.

Mit Blick auf die steigenden Umfragewerte der FPÖ und den aufziehenden Wahlkampf zog er scharfe Linien. Es wurden sogar eigens Pressemitteilungen verschickt, in denen Stocker die Bevölkerung wissen ließ, welche Gefahr von Herbert Kickl ausgehe.

Dass ausgerechnet Stocker durch die Kehrtwende in die erste Reihe befördert wird, hat Gründe. „Man suchte nach einem Profi, der schnell übernehmen und gut einstecken kann“, sagt Neuhauser und weist darauf hin, dass er keineswegs der große Stratege hinter der Kehrtwende gewesen sei. Auch hätte es keinen Machtkampf zwischen ihm und Nehammer gegeben, der frühere Generalsekretär wäre gegenüber dem Parteichef immer treu gewesen. Nun ist er offenbar wieder loyal.

Dazu kommt, dass Stocker trotz aller Kickl-Kritik einen guten Draht zu FPÖ-Politikern hat. In seiner Heimat Wiener Neustadt, einst eine rote Hochburg, die im niederösterreichischen Industrieviertel liegt, hat er die schwarz-blaue Wende mit orchestriert und einen Pakt mit der FPÖ geschlossen. Stocker ist dort noch immer Vizebürgermeister.

Die heimlichen Verhandler: Wirtschaftsflügel und Industrie

Es sind nicht nur Gemeinsamkeiten in der Migrationspolitik, die Schwarze und Blaue miteinander verbinden. Die FPÖ ist in ihrem aktuellen Wahlprogramm wirtschaftlich auf die ÖVP eingegangen, das kam beim Wirtschaftsflügel der Volkspartei gut an. Genauso wie bei der Industrie.

So sehr, dass manche Vertreter schon kurz nach der Wahl für eine Koalition mit den Blauen warben. Während der Verhandlungen mit SPÖ und Neos wurde der Druck auf Kanzler Karl Nehammer immer stärker, am Ende hatte er keinen Rückhalt mehr, berichtet Julia Neuhauser: „Das Signal in Richtung Blau kam klar aus der Wirtschaft, insbesondere aus dem Wirtschaftsbund und der Industriellenvereinigung.“

Deren Skepsis gegenüber der SPÖ wäre schon seit längerem groß, sie würde aus ihrer Sicht Belastendes fordern. Seit Andreas Babler die SPÖ anführt und einen linkeren Kurs einschlug, lieferte ihnen dies noch mehr Argumente gegen eine Koalition mit den Roten.

Der ÖVP droht die Verzwergung

Der Preis dafür: Im Bund droht der ÖVP eine Verzwergung, denn kleinere Partner sind aus einer Regierung bisher nie gut ausgestiegen.

Politikwissenschaftler Reinhard Heinisch von der Universität Salzburg verweist auf Italien, Frankreich und Ungarn, wo Christdemokraten und Konservative kaum mehr eine Rolle spielen. „Wenn gemäßigte Bürgerliche mit radikalen Rechten zusammengehen, gibt es am Ende nur noch die radikalen Rechten.“

Dies sei einfach zu erklären, sagt Heinisch. Wenn Bürgerliche das Programm der Radikalen übernehmen, seien sie kurzfristig erfolgreich, sie würden aber auch den Diskurs verschieben und verlören ihr Alleinstellungsmerkmal. „Am Ende gehen die Leute doch gleich lieber zum Schmied und nicht zum Schmiedl.“

Das hat sich auch gezeigt, als Sebastian Kurz die ÖVP führte – anfangs zu Höhenflügen, letztlich sind aber viele Wähler wieder zu den Blauen zurückgekehrt und viele aus der Volkspartei sogar dazugekommen. Bei der vergangenen Wahl im September ist der größte Wählerstrom mit 443.000 Stimmen von der ÖVP zur FPÖ verlaufen.

Sebastian Kurz holte für die ÖVP 2017 mehr als 30 Prozent.

© REUTERS/Heinz-Peter Bader

Was sich Österreichs Konservative nun von einer Juniorpartnerschaft verspricht, ist unklar. Eine Erzählung lautet, dass man während der Legislaturperiode einen Spitzenkandidaten für die nächste Wahl aufbauen wolle, der dann das Ruder drehen soll.

So viel steht allerdings fest: Die fünf guten Jahre, die Kickl mit seiner FPÖ auf den Wahlplakaten versprach, könnten für die ÖVP zu fünf sehr anstrengenden werden. Der Ton, den Kickl nach seiner ersten Pressekonferenz anschlug, war nicht gerade freundlich. Er forderte die ÖVP auf, seinen Sieg anzuerkennen und drohte zugleich mit Neuwahlen.

Kickl komme mit der „ausgestreckte Faust“ kommentierte der „Standard“. Der österreichischen Tageszeitung wurde kürzlich ein Video zugespielt, in dem zwei nicht gerade unbedeutende FPÖ-Funktionäre öffentlich über Flüchtlinge schimpfen, den Austritt Österreichs aus der EU fordern und die ÖVP als „erbärmlich“ verspotten.

Innenpolitik-Journalistin Julia Neuhauser sieht dies als „Vorgeschmack“ für die Konservativen: „Die ÖVP wird sich bei jedem Problem, das mit der FPÖ auftritt, rechtfertigen müssen – bei rechtsextremen Aussagen einzelner Funktionäre genauso wie Kickl-Ausritte in Brüssel.“

Doch für diesen Fall zeigt sich der neue Mann an der Spitze der Konservativen vorbereitet. Stocker erklärte im „Standard“, er sei weder die „Nanny der FPÖ“ noch werde er deren Mitarbeiter-Liste kontrollieren. Gemeint waren Identitäre, die möglicherweise bald in staatlichen Institutionen oder Ministerbüros arbeiten könnten.

Aus Stockers Sicht definiert sich die Zusammenarbeit so: „Es entsteht nicht mehr als ein Programm für fünf Jahre, wo man sich zur Umsetzung von Vorhaben die parlamentarische Mehrheit zur Verfügung stellt.“

Für Julia Neuhauser klingt das nach einer Absicherung: „Was die FPÖ als Ganzes mache oder ein Kanzler Kickl in Brüssel, darauf habe man nur bedingt Einfluss.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })