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Rettungskräfte in Kiew im Einsatz nach einem russischen Raketenangriff.

© Staatlicher Rettungsdienst in Kiew

Unterwegs mit Rettungskräften in Kiew: „Wir arbeiten so lange, bis sich keine Menschen mehr unter den Trümmern befinden“

Die russischen Angriffe auf Kiew haben zuletzt stark zugenommen. Den Rettungskräften bietet sich oft ein Bild des Grauens: Brände, Tote, Verschüttete. Manchmal trifft es auch die Helfer selbst.

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Am Tag vor dem größten Angriff auf Kiew im Juli dieses Jahres sitzt Pawlo Petrow im Café gegenüber der Hauptverwaltung des staatlichen Rettungsdienstes der Ukraine in Kiew (DSNS).

Petrow trägt eine helle Sommerfelduniform, auf seiner Schulter ist deutlich eine lange Narbe zu sehen. Die Verletzung hat sich der Leiter der Pressestelle des DSNS bei Rettungsarbeiten zugezogen.

„Das war im Juni. Wir befanden uns am Einschlagsort einer Shahed-Drohne“, schildert er die Situation, in der es passierte. „Wir überprüften die Umgebung – und plötzlich gab es eine zweite Explosion. Ein Teil der Drohne war detoniert. Die Kamera, die ich über der Schulter trug, milderte den Aufprall, aber um die zehn Splitter blieben in meinen Knochen stecken. Neun wurden von Chirurgen entfernt, einer ist noch drin.“

An diesem Tag wurden noch sechs weitere Mitglieder seines Teams verletzt, drei befinden sich nach wie vor im Krankenhaus. Petrow selbst ist wieder im Einsatz.

Fast jeden Tag Luftangriffe auf Kiew

Der staatliche Rettungsdienst, für den Petrow tätig ist, ist immer dann zur Stelle, wenn Russland erneut die ukrainische Hauptstadt mit Raketen und Drohnen angegriffen hat. Sobald der Luftalarm verstummt ist, erscheinen Rettungskräfte, Freiwillige und Sanitäter in den Höfen der betroffenen Stadtviertel.

Die einen räumen Trümmer weg, die anderen entschärfen Raketenfragmente, die dritten bergen Verletzte. Im vierten Jahr des russischen Angriffskrieges haben solche Einsätze einen klaren Ablauf, in dem jeder seine Rolle kennt.

Das Gespräch mit Petrow wird durch einen kurzen Luftalarm unterbrochen – nach 15 Minuten wird er wieder aufgehoben. Während er nebenher die Updates in diversen Telegram-Kanälen verfolgt, erklärt Petrow, dass es seit Beginn des Sommers schwieriger geworden ist, die von Russland eingesetzten Raketen zu identifizieren, was auch die Räumungsarbeiten erschwert.

Pawlo Petrow, Leiter der Pressestelle des staatlichen Rettungsdienstes der Ukraine in Kiew.

© Staatlicher Rettungsdienst von Kiew

Im Juni stand die ukrainische Hauptstadt unter beispiellosem Druck. Fast jede Nacht kam es zu russischen Luftangriffen, die oft in mehreren Wellen erfolgten, bei denen Hunderte von Drohnen und Raketen gleichzeitig in Richtung Kiew geschickt wurden. Nach Angaben des Hauptnachrichtendienstes des Verteidigungsministeriums (GUR) wurden in dem Monat mehr als 350 iranische Kamikazedrohnen und Dutzende Raketen auf die Stadt abgefeuert. Die ukrainische Luftabwehr schoss mindestens 60 bis 80 Objekte pro Tag ab.

Anfang Juli nahm die Zahl der Angriffe auf Kiew zunächst wieder ab, doch in der zweiten Monatshälfte verstärkten die Russen erneut ihre Angriffe. Der Höhepunkt war die Nacht vom 30. auf den 31. Juli, als Russland zum ersten Mal modifizierte Raketendrohnen vom Typ Shahed-136 zusammen mit Iskander-Raketen auf Kiew abfeuerte. In dieser Nacht wurden in Kiew Schäden an mehr als 27 Orten registriert.

Gefahr durch modifizierte Drohnen

Was die Rettungskräfte besonders besorgt, sind modifizierte russische Drohnen. Petrow berichtet, dass einige der Fluggeräte neben der Hauptladung auch Spezialmunition tragen. „In letzter Zeit registrieren wir modernisierte Schlagdrohnen vom Typ Shahed, die mit KI ausgestattet sind. Außerdem besitzen sie Kameras, Funksteuerung und können sich an die Umgebung anpassen, wodurch sie schwieriger zu zerstören sind“, erklärt der Sprecher des Rettungsdienstes.

Ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes zeigt ein Trümmerteil.

© Staatlicher Rettungsdienst in Kiew

Am Morgen nach dem großen Angriff nimmt sich Pawlo Petrow erneut etwas Zeit, um die Lage zu schildern – diesmal im Stadtteil Solomyanskyj. Er liegt zehn Kilometer vom historischen Zentrum der Hauptstadt entfernt, hier reiht sich Hochhaus an Hochhaus. Während des nächtlichen russischen Angriffs traf eine ballistische Rakete vom Typ „Iskander“ eines von ihnen. Das neunstöckige Gebäude stürzte sofort ein. Was übrig blieb, sieht aus wie ein zusammengepresster Karton.

Das Gebiet, in dem Rettungskräfte, Polizei und das Rote Kreuz arbeiten, ist mit Absperrband abgeriegelt. Dahinter versammeln sich Menschen und Journalisten. Alle wollen wissen, wie die Arbeiten voranschreiten, wie viele Tote es gab, wie viele Menschen überlebten. In der Menge steht ein Mädchen mit einem schmutzigen Teddybären, den es an seine Brust drückt. Unter den Trümmern liegen die Eltern der 15-Jährigen. Sie hofft immer noch, dass die beiden noch leben.

Pawlo Petrow informiert an diesem Morgen die Journalisten: Er berichtet über die Details der Rettungsaktion, nennt Daten, gibt offizielle Informationen weiter. Genauso wie seine Kollegen an anderen Orten in Kiew: In der Nacht gab es drei Treffer in Wohnhäusern. In jedem davon starben Menschen, andere wurden verletzt. Petrow trägt jetzt einen feuerfesten Rettungsanzug. Über seiner Schulter hängt eine Tasche mit der Aufschrift „Pressa”, darin befindet sich unter anderem eine Kamera.

Wichtig ist für uns, wenn wir wenigstens einem Menschen das Leben retten können.

Pawlo Petrow, Sprecher des staatlichen Rettungsdienstes der Ukraine in Kiew

„Die Rettungskräfte begannen ihre Arbeit im Keller. Sie suchten nach Personen, die sich möglicherweise unter den Trümmern befanden“, erklärt er den Journalisten. „Dann arbeiteten sie sich die eingestürzten Abschnitte hinauf. Wir arbeiten ausschließlich von Hand, da schweres Gerät instabile Böden verschieben und Menschen darunter begraben kann, die möglicherweise noch am Leben sind. Jede unachtsame Bewegung kann zu weiteren Einstürzen führen.

Der Pressesprecher erklärt, dass die Rettungskräfte eine neunte Tote gefunden haben. Es handelt sich um eine junge Frau. Das erste gefundene Opfer war ein kleines Mädchen. Unter den Trümmern könnten sich noch etwa 25 Menschen befinden, die genaue Zahl kennt niemand. „Die Angehörigen sind in Panik, manche widersprechen sich in ihren Aussagen, manche werden von Freunden gesucht – und manche haben es vielleicht einfach nicht geschafft, nachts zum Schutzraum zu gelangen“, sagt Petrow.

Ein nach einem Raketenangriff zusammengestürztes Haus. Der Notdienst versucht, die Flammen zu löschen.

© Staatlicher Rettungsdienst in Kiew

Im Keller der benachbarten Schule, hundert Meter vom zerstörten Hauseingang entfernt, befindet sich der nächstgelegene Schutzraum. Dorthin begaben sich die meisten Bewohner, als der nächtliche Alarm einen Drohnenangriff ankündigte – und nun stehen diese Menschen unverletzt hinter dem Absperrband. Andere blieben, erschöpft von den vorherigen Bombardements, in ihren Wohnungen – und wurden beim Einsturz des Gebäudes unter den Trümmern begraben.

Hoffnung, diese Menschen zu finden, haben die Rettungskräfte immer. Denn, sagt Petrow, es sei schon vorgekommen, dass Menschen auch noch 40 oder 50 Stunden nach einem Einsturz lebend gerettet werden konnten.

Unterstützung aus anderen Regionen

„Das ist einfach unsere Arbeit“, sagt er und blickt auf das zerstörte Gebäude. „Wir sind keine Helden. Wir arbeiten so lange, bis wir sicher sind, dass sich keine Menschen mehr unter den Trümmern befinden, weder lebende noch tote. Wichtig ist für uns, wenn wir wenigstens einem Menschen das Leben retten können.“

Der Ablauf für den Katastrophenschutz nach einem russischen Luftangriff ist immer gleich. Die Streifenpolizei sperrt als erste den Bereich eines Einschlags ab. Dann kommen die Sprengstoffexperten zum Einsatz, untersuchen die Trümmer der Raketen und Drohnen, sprengen diese womöglich kontrolliert, bevor die Retter an die Arbeit gehen können.

Ein Gebäude in Kiew in Flammen.

© Staatlicher Rettungsdienst in Kiew

Petrow erinnert sich an einen Fall, als ein Team der Behörde die Überreste eines Raketengefechtskörpers vom Typ X 69 vom Hof eines Hochhauses entfernte. Dafür waren etwa 500 Rettungskräfte des DSNS und über 100 Fahrzeuge im Einsatz. Bei massiven Angriffen werden die örtlichen Kräfte von Brigaden aus anderen ukrainischen Regionen unterstützt. „Heute verstärkt eine Brigade aus Tscherkassy oder Charkiw Kiew – und morgen kommen wir ihnen zu Hilfe“, erklärt Petrow.

Eine wichtige Aufgabe für die Retter besteht auch darin, die Einwohner von Kiew nach einem Raketenangriff zu unterstützen und generell aufzuklären. Sie verteilen zum Beispiel Kontaktdaten für Menschen, die Hilfe benötigen oder wissen wollen, wann sie wieder in ihre Häuser zurückkehren können.

Während vor dem Krieg lediglich vereinzelt Vorträge gehalten worden sind, gibt es nun Schulungen an eigens aufgebauten Ständen. Gezeigt werden Trümmer, Minenmodelle und Videos. Zusätzlich fährt ein Bus als Informationszentrum durch die Stadt und hält in dicht besiedelten Regionen.

Wie wichtig diese Aufklärungsarbeit ist, das hat seine Verletzung Petrow noch einmal deutlich gemacht, sagt er. „Kinder nehmen schnell mal glänzende Trümmerstücke in die Hand, weil sie denken, dass es Spielzeug ist“, sagt er. Kürzlich etwa habe ein Junge einen Teil einer Drohne mit nach Hause gebracht – die Eltern riefen rechtzeitig die Rettungskräfte.

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