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Wurde die Ukraine aus dem Weltall angegriffen?: Russlands neuartige Rakete ist womöglich gar nicht so neu
Der Kreml spricht von einer neuartigen Rakete, die bei dem Angriff auf Dnipro eingesetzt wurde. Experten haben Zweifel an dieser Darstellung. Eine weitere Eskalation sei der Angriff dennoch.
Stand:
Am Donnerstagmorgen verschickt die Nachrichtenagentur AFP eine Eilmeldung, die nach einer drastischen Eskalation im Ukraine-Krieg klingt: „Russland feuert erstmals Interkontinentalrakete auf die Ukraine ab“, heißt es da. Interkontinentalraketen, das sind jene furchteinflößenden Waffensysteme, die im Kalten Krieg entwickelt wurden, um Langstreckenbomber abzulösen und Atomsprengköpfe gleich dutzendfach in nahezu jedes Ziel auf dem Planeten zu lenken.
Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Rakete weder atomar bestückt, noch eine echte Langstreckenrakete war. Das sind erst einmal vergleichsweise gute Nachrichten. Sie werfen allerdings auch die Frage auf, warum Kiew von einer Interkontinentalrakete ausging. Und was ist über das Geschoss bekannt, das von der russischen Armee eingesetzt wurde?
Es stellt sich die Frage, warum die Russen eine solche Rakete entwickeln sollten.
Oleksandr Kovalenko, Militärexperte
Sowohl der Kreml als auch das ukrainische Militär haben übereinstimmend gemeldet, dass mit der Rakete mehrere Ziele in der zentralöstlichen Stadt Dnipro angegriffen worden seien. Nach ukrainischen Angaben handelte es sich um Unternehmen und kritische Infrastruktur. Bei einer Firma soll es sich demnach um einen Hersteller von Raketen und Raketenbauteilen handeln. Zudem seien zwei Brände in der Stadt ausgebrochen.
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Dass mit einer Rakete mehrere Ziele getroffen werden, deutet zumindest auf das Funktionsmuster einer Interkontinentalrakete hin. Diese Art von Geschossen beschleunigt zunächst in die oberen Schichten der Erdatmosphäre oder sogar in bis ins Weltall. Dort bewegen sie sich auf einer ballistischen Flugbahn, bis sich mehrere Sprengköpfe von der eigentlichen Rakete trennen und sich ihren Weg zum Ziel suchen.
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Aufgrund der extrem hohen Geschwindigkeit, mit der sich die Wiedereintrittskörper in Richtung Erdoberfläche bewegen, können die Sprengköpfe in der Regel nur schwer abgewehrt werden.
Putin verrät neue Details zur „Oreshnik“-Rakete
Der russische Präsident Wladimir Putin sprach gestern in einer Videoansprache von sechs nicht-nuklearen Sprengköpfen, die von der Rakete transportiert worden seien.
Er begründete den Angriff mit dem vorhergegangenen Abschuss westlicher Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper der Typen ATACMS und Storm Shadow vom Gebiet der Ukraine auf Ziele in Russland. Und er verriet einige wenige Details zu der als „Oreshnik“ (zu deutsch „Haselnuss“) genannten Rakete.
Dabei soll es sich um eine ballistische Mittelstreckenrakete (IRBM) handeln, die eine Geschwindigkeit von bis zu 12.300 Kilometer pro Stunde erreichen kann. Sie hätte nach Angaben des russischen Präsidenten nuklear bewaffnet werden können. Nach internationaler Klassifizierung entspräche dies einer Rakete mit einer Reichweite von etwa 2500 bis 5000 Kilometern. IRBMs erreichen Flughöhen von mehreren hundert Kilometern, bewegen sich also durch den Weltraum oder an der Grenze dazu.
Einen Tag nach dem Angriff hat auch die Ukraine Erkenntnisse über das Geschoss vorgelegt. Die Rakete habe mehr als die elffache Schallgeschwindigkeit erreicht, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters den ukrainischen Geheimdienst. Sie sei vom Start in der südrussischen Region Astrachan bis zum Einschlag in der Stadt Dnipro in der zentralöstlichen Ukraine 15 Minuten lang geflogen. Die Rakete sei mit sechs Gefechtsköpfen bestückt gewesen, von denen jeder mit sechs Teilen Submunition ausgestattet gewesen sei. „Die Geschwindigkeit im letzten Abschnitt der Flugbahn lag über Mach elf“, so der Geheimdienst.

© REUTERS/Mykola Synelnykov
Ist Russlands neue Rakete vielleicht gar nicht so neu?
Nach Ansicht des ukrainischen Militärportals Defense Express ist die neue Rakete aber gar nicht so neu. Demnach könnte es sich um ein bereits bekanntes Geschoss namens RS-26 Rubizh handeln. „Namensspiele“ bei Waffensystemen seien im Kreml nicht ungewöhnlich, schreiben die Analysten. In der Vergangenheit sei etwa der Marschflugkörper X-101 auch als Izdoroyve 504 bezeichnet worden.
Durch die Verwendung des neuen Namens „Oreshnik” wolle der Kreml wahrscheinlich den Eindruck erwecken, dass Russland angeblich über neue, bisher unbekannte Raketenfähigkeiten verfügt, erklären die Analysten. Auch die „Bild“-Zeitung berichtet unter Berufung auf Geheimdienstkreise, dass es sich bei der Rakete um eine RS-26 handelte, die Übungsatomsprengköpfe ohne nukleare Ladung enthielt.
Auch der ukrainische Militärexperte Oleksandr Kovalenko, der seit 2014 militärische Entwicklungen in Russland analysiert, bezweifelt, dass es sich bei der Rakete tatsächlich um ein neues Waffensystem handelt. „Ich verfolge die Aktionen der Russen sehr genau, aber ich habe noch nie von dem Oreshnik-Projekt gehört. Und ich hätte davon erfahren müssen, wenn es dieses Projekt wirklich gäbe. Normalerweise laufen solche Projekte über einen langen Zeitraum, und die Informationen sickern in die Fachwelt durch”, sagt er dem Tagesspiegel.
Ukraine kaum in der Lage, IRBMs zu orten
„Die Russen haben bereits zwei Hyperschallraketen im Einsatz, die Kinzhal und die Zirkon. Die Eigenschaften der angeblich neuen Rakete sind die gleichen – Mach 10. Selbst die X-47M2 Kinzhal erreicht Mach 12. Und diese Raketen werden von den Luftabwehrsystemen Patriot und SAMP/T erfolgreich abgeschossen. Es stellt sich die Frage, warum die Russen eine solche Rakete entwickeln sollten“, sagt Kovalenko.
Auch von der „New York Times“ zitierte Militäranalysten gaben an, dass die Rakete sich vermutlich nicht wesentlich von bereits bekannten Waffensystemen unterscheide.

© IMAGO/ITAR-TASS
Fabian Hoffmann, der an der Universität Oslo zu Raketentechnologie forscht, nimmt an, dass es sich bei der Rakete um eine Variante der RS-26 Rubesch handeln könnte, deren Entwicklung 2018 eingestellt worden sein soll. „Ich wäre überrascht, wenn Russland (eine solche Rakete) bauen könnte, ohne mindestens zu 90 Prozent auf bestehende Entwicklungen zurückzugreifen und ohne Teile der RS-26 auszuschlachten“, sagte Hoffmann der Nachrichtenagentur AFP.
Dennoch habe der Angriff eine völlig neue Qualität. Alarmierend sei nicht nur die Reichweite der Rakete, sondern auch ihre Fähigkeit, beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre mehrere Sprengköpfe abzufeuern, sagte Tom Karako, Direktor des Projekts zur Raketenabwehr am Zentrum für strategische und internationale Studien in Washington, dem Blatt. Das mache es nicht nur schwer, sondern nahezu unmöglich, sie abzuwehren.
Der ukrainische Militäranalyst Iwan Kirischevski sagte der „New York Times“, die Ukraine verfüge weder über Radaranlagen, die Raketen bei ihrem Flug durch die obere Atmosphäre aufspüren können, noch über Waffensysteme, sie abzuschießen. „Es ist möglich, dass unsere westlichen Partner den Raketenstart vor uns bemerkt haben”, so Kirischevski.
Dass sich Russland dazu entschied, diesmal eine Rakete mit größerer Reichweite abzuschießen, die nukleare Sprengköpfe tragen kann und in erster Linie der nuklearen Abschreckung dient, sollte also möglicherweise der Abschreckung dienen. Die Botschaft lautet: Der aktuelle Schlag hatte keine nukleare Nutzlast, aber wenn ihr so weitermacht, könnte der nächste Schlag mit einem nuklearen Sprengkopf erfolgen.
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