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Ibou Diop hat an einem Konzept zum Gedenken an Berlins kolonialgeschichtlicher Vergangenheit mitgearbeitet.

© PR/Thabo Thindi

Berlins neues Konzept für „Koloniales Erinnern“: „Wir alle haben einen persönlichen Bezug zum Kolonialismus“

In Berlin spielt die koloniale Vergangenheit mehr als in jeder anderen Stadt Deutschlands eine Rolle. Heute erinnert fast nichts mehr daran. Der Ausstellungskurator Ibou Diop erklärt, was sich am Umgang mit ihr ändern muss.

Stand:

Herr Diop, Sie haben Mitte Oktober im Abgeordnetenhaus das Konzept „Kolonialismus Erinnern“ für das Land Berlin übergeben. Wie waren die Reaktionen bisher?
Sehr positiv. Mich hat das überrascht, angesichts einer erstarkenden AfD und der von Bundeskanzler Merz angestoßenen Diskussion um das sogenannte Stadtbild. Unser Konzept wurde auch von der Politik gut aufgenommen. Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson hat sich offiziell bedankt.

Warum hat die Erarbeitung so lange gedauert, drei Jahre insgesamt? Sie haben eine erste Fassung bereits 2024 im Haus der Kulturen vorgestellt.
Zu diesem Zeitpunkt wurde noch heftig diskutiert, ob in Deutschland überhaupt an den Kolonialismus erinnert werden muss. Gleichzeitig brachte die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth ihr Gedenkstätten-Konzept heraus. Unser erster Entwurf sollte anschließend erneut mit einzelnen Verbänden diskutiert werden, etwa dem Afrika-Rat Berlin-Brandenburg oder Decolonize Berlin und auch mit den Gedenkstätten-Leitern, inwieweit sich das Konzept dort anbinden lässt. Außerdem wurde der Historische Beirat mit zwei Workshops hinzugezogen. Die Ergebnisse gingen zurück in die Arbeitsgruppe und mussten eingearbeitet werden. All das hat gedauert.

Gibt es auch in anderen Städten ähnliche Initiativen für Koloniales Erinnern?
Hamburg hat ebenfalls ein solches Konzept, in Stuttgart und Hannover gibt es eigene Stellen, die sich um Erinnerungskultur kümmern. In Frankfurt wird gerade ein Konzept verfasst. Aber in Berlin ist einmalig, dass es eigenständig von der Zivilgesellschaft erarbeitet und von der Politik unterstützt wurde.

Auf dem jährlichen Gedenkmarsch zur Erinnerung an die afrikanischen und Schwarzen Opfer von Versklavung, Kolonialismus und rassistischer Gewalt. Er findet in Berlin immer Ende Februar anlässlich des Jahrestages der Kongo-Konferenz statt.

© imago/IPON

Hatten Sie Vorbilder?
Ja, bei meiner Suche bin ich auf ein 190-seitiges Papier des auf Martinique geborenen Philosophen Édouard Glissant für die französische Regierung unter dem Titel „Mémoires des Esclavages“ gestoßen. Darin versucht er auf Grundlage vieler Gespräche und seiner Theorie der „Tout-Monde“ zu erklären, was Versklavungshandel ist und wie sich daran erinnern lässt. Auch wir wollen auf andere Länder zugehen, mit denen Deutschland eine gemeinsame Kolonialgeschichte hat. Wir laden Menschen aus Tansania, Namibia, Ruanda und anderen betroffenen Ländern ein, mit uns eine Form des Erinnerns zu finden.

Warum ist das gerade für Berlin so wichtig?
Hier wurde die koloniale Struktur geboren. In der Wilhelmstraße 92, dem Reichskanzlerpalais, wurden anlässlich der Kongo-Konferenz 1884/85 Grenzen gezogen und Regeln für die Aufteilung des afrikanischen Kontinents aufgestellt. Die europäischen Mächte teilten den „Kuchen“ unter sich auf. Hier fand 1896 im Treptower Park die Kolonialausstellung statt, wo sich Tausende Besucher Menschen anderer Kulturen wie Exponate angeschaut haben. Gleichzeitig war Berlin der Ort des antikolonialen Widerstands.

Spielt auch die jüngere Geschichte eine Rolle?
In Berlin befinden wir uns an einem Ort, der durch die Mauer in Ost und West geteilt war, einem Ort unterschiedlicher Erfahrungen. Außerdem gibt es hier diverse Migrationsgesellschaften, hier leben besonders viele Menschen vom afrikanischen Kontinent, aus dem pazifischen Raum und China, wo Deutschland Kolonialmacht war.

Worin bestehen bisher die größten Defizite?
Wir alle haben einen persönlichen Bezug zum Kolonialismus, aber er ist im Alltag unsichtbar. Wir laufen durch die Straßen und fragen uns nicht, nach wem sie benannt sind. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt und fragen uns ebenso wenig, woher dieser Reichtum kommt. Und beim Museumsbesuch fragen wir nicht, woher die gezeigten Objekte stammen. Wir befinden uns an einem Ort, der zur heutigen Weltordnung beigetragen hat, aber nicht darüber informiert.

Gedenktafel in der Wilhelmstraße. In der Nummer 92, dem Reichskanzlerpalais, teilten die Kolonialmächte anlässlich der Kongo-Konferenz 1884/85 den afrikanischen Kontinent unter sich auf.

© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Paul Zinken

Können Sie ein Beispiel nennen?
In der Wilhelmstraße gibt es eine Stele der afrikanischen Vereine, aber sie ist unter einem Baum versteckt. Dabei könnte gerade dort die Verschränkung von Kolonialismus, Nationalsozialismus und SED-Diktatur dargestellt werden. Die vorbeilaufenden Touristen erfahren zwar viel über den Hitler-Bunker, wie viele Menschen im Holocaust grausam ermordet wurden. Zu den Kolonialverbrechen erfahren sie nichts.

Gibt es noch andere Leerstellen?
Es gibt sie überall, egal in welchem Bezirk. Da wären die Kaufhäuser, die durch den Kolonialismus entstanden. Edeka trägt noch heute abgekürzt die Vergangenheit in seinem Namen: Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler. Auch in Familien tauchen Verbindungen auf, wenn man nur gräbt. Die meisten haben einen Vorfahren, der involviert war. Diese Geschichten müssen erzählt werden, um zu verstehen, dass der Kolonialismus mit uns allen zu tun hat.

Die Touristen erfahren zwar viel über den Hitler-Bunker, zu den Kolonialverbrechen erfahren sie nichts.

Ibou Diop, Mitverfasser des Konzeptes Koloniales Erinnern.

Droht nicht Überdruss bei all den Gedenktafeln und Straßenumbenennungen?
Solange Menschen Rassismus erfahren, gibt es kein Zuviel. Rassismus ist oft nichts anderes als Unwissen. Ich kann die Frage trotzdem gut verstehen. Aber in diesem Land, von dem ein Genozid ausging, sitzt 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine Partei im Bundestag, welche ebenfalls Vertreibung propagiert. Solange wir solche Abgeordneten haben, kann es keinen Überdruss geben. Selbst wenn 99 Prozent keine Rassisten wären, hätten wir immer noch die Aufgabe, dieses eine Prozent zu bekehren.

An wen richtet sich der Lern- und Erinnerungsort?
An alle Berlinerinnen und Berliner, alle Besuchenden und jeden, der sich für die ganze Geschichte Deutschlands interessiert. Er richtet sich an die Menschen der Zukunft, damit ein Zusammenleben gelingen kann.

Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin-Mitte in Anton-W.-Amo-Straße zur Erinnerung an den ersten deutschen Schwarzen Akademiker.

© imago/IPON/imago stock

Gibt es schon einen Standort?
Drei stehen zur Wahl: der Treptower Park, die Stresemannstraße, wo einst das Königliche Völkerkundemuseum stand, und das ehemalige Kolonialmuseum, das sich zwischen 1899 und 1915 an der Moltkebrücke befand. Es muss kein Neubau sein, aber Erinnerung braucht Orte, an denen etwas stattgefunden hat.

Wie realistisch ist die Umsetzung, nachdem im gerade von Kulturstaatsminister Weimer vorgestellten Gedenkstättenkonzept das Thema Kolonialismus ausgespart wird?
Was in den letzten Jahren angestoßen wurde, lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Es geht nicht um die Haltung einzelner Politiker, sondern wie sich Deutschland international positioniert. Und es geht nicht allein um Berlin, sondern unsere Beziehung zum Rest der Welt, mit Kamerun, Tansania, Togo, China. Für sie spielt eine Rolle, wie wir uns mit der Geschichte des Kolonialismus auseinandersetzen. Bei der nächsten Verhandlung etwa mit Namibia werden wir wieder auf koloniales Raubgut und Human Remains in den Museen angesprochen und müssen agieren.

Selbst wenn 99 Prozent keine Rassisten wären, hätten wir immer noch die Aufgabe, dieses eine Prozent zu bekehren.

Ibou Diop

Welche Chancen geben Sie dem Lern- und Erinnerungsort angesichts der Streichung im Berliner Kulturetat?
Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um den Prozess. Wird es die Stresemannstraße, müssen wir die Anwohner mitnehmen. Wie soll die Architektur aussehen? Soll sie sich in Vorhandenes einfügen? Das braucht viele Gespräche, Partizipation: mit dem Straßen- und Grünflächenamt, der Denkmalpflege, den Kulturhäusern, was die neue Institution jenseits des Themas Kolonialismus anbieten kann. Sie soll nicht wie beim Humboldt-Forum wie ein Klotz, zack, in die Mitte gesetzt werden.

Die Kultursenatorin hat das Konzept zwar gelobt, was die Grünen als wohlfeil kritisierten, weil sie ohnehin auf den Bund als Geldgeber setzt. Fürchten Sie nicht, dass alles Papier bleibt?
Wir haben schon vorher nicht auf die Politik gewartet, aber sie würde eine einmalige Chance für das ganze Land verpassen. Die Black-Lives-Matter-Bewegung verschwindet zwar immer mehr aus dem deutschen Alltag und über koloniale Raubkunst wird kaum noch geredet— aber die Zivilgesellschaft arbeitet weiter daran: dass Straßen umbenannt werden, Berlin weniger rassistisch wird.

Das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin wurde im Krieg zerstört. Heute erinnert nur noch eine Gedenktafel neben dem Parkplatz vom Gropius Bau an das Gebäude. Einst wurde dort koloniales Raubgut gehortet.

© Staatsbibliothek zu Berlin

Gewünscht ist außerdem ein Mahnmal. Wo sollte dies stehen?
Es könnte sich innerhalb des künftigen Erinnerungs- und Lernorts befinden oder an der Wilhelmstraße. Aber es könnte auch die Form eines Gedenktages haben. Die afrikanische Gemeinde in Berlin veranstaltet seit 20 Jahren – analog zum Ende der historischen Afrika-Konferenz Ende Februar – einen Gedenkmarsch für die widerständigen Opfer des Kolonialismus von der Wilhelmstraße zum Hausvogteiplatz.

Nehmen Sie auch Vorschläge aus Ländern auf, die mit Deutschland eine koloniale Vergangenheit haben?
Das Konzept sieht eine Zusammenarbeit mit anderen Orten vor, die an Kolonialgeschichte erinnern, ebenso mit Ländern, mit denen wir eine entsprechende Beziehungsgeschichte haben. Es kann sein, dass von dort weniger ein Mahnmal gewünscht wird als eine finanzielle Entschädigung, zumindest endlich eine Anerkennung des Unrechts.

Was sind Ihre nächsten Schritte, die Gründung einer Geschäftsstelle?
Nein, es wäre ein falsches Signal, als erstes einen Geschäftsführer zu suchen. Wir sprechen parallel mit den Communities über ihre Erwartungen, mit dem Stadtmuseum, den Politikern. Erst danach entwickeln wir eine Entscheidungsstruktur. Und dann klären wir, wo der Lern- und Erinnerungsort machbar ist. 2026 laden wir Künstlerinnen, Architekten, Politikerinnen, Aktivisten zu einer Konferenz ein, um zu überlegen, wie dieser Ort physisch aussehen könnte.

Könnte es nicht zu spät sein angesichts des nachlassenden Interesses am Thema Kolonialismus?

Mich überrascht der Rollback nicht. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit Kolonialrassismus in Deutschland wurden kaum Strukturen geschaffen, die langfristig in großen Institutionen verankert werden. Der Großteil der Arbeit erfolgte bisher auf Projektbasis und als Reaktion unter anderem auf den Tod von George Floyd und die dadurch erstarkende Black Lives Matter Bewegung in Deutschland. Jetzt muss Deutschland Haltung zeigen. Für alle ist es eine Lebensrealität: Entweder ist man von Rassismus betroffen oder übt ihn, bewusst oder unbewusst, aus. Beiden Seiten würde es helfen, sich damit auseinanderzusetzen – sowohl demjenigen, der die Unterdrückung erlebt, als auch demjenigen, der die Macht hat.

Fürchten Sie nicht Ähnliches wie in den Vereinigten Staaten?
Was in Amerika gerade passiert, dass ein Präsident quasi im Alleingang entscheidet, Menschen rechtswidrig des Landes zu verweisen und dies in einer enormen Geschwindigkeit durchsetzt, ohne bisher auf erfolgreichen Widerstand zu stoßen, wird hier nicht eintreten. Die USA können sich das leisten. In Europa geht das zum Glück nicht. Ich setze hier große Hoffnung in die Zivilgesellschaft und die staatlichen Institutionen in Deutschland, und vertraue darauf, dass dieses Land die Lehren aus seiner jüngeren Geschichte ziehen wird.

Kulturstaatsminister Weimer hat sich zuletzt für „die unbedingte Restitution aller geraubten Objekte aus den Museen“ ausgesprochen. Halten Sie das für realistisch?
Hat er das wirklich gesagt? Es würde uns guttun, denn eine solche Rückgabe bedeutet Größe – und die braucht dieses Land. Wir brauchen ein Deutschland, das uns allen eine Zukunft anbietet. Das ist eine staatliche Aufgabe. Wir haben diese Forderung nach Restitution schon vor mehr als zehn Jahren formuliert. Aus Wolfram Weimers Mund klingt sie nach Populismus.

Wird sich die geplante Stiftung auch bei der Rückgabe von Raubgut und Human Remains einbringen?
Wir möchten uns beratend beteiligen, auch bei den Museen. Es fehlt eine Institution, wo Restitutionsfragen diskutiert werden. Bisher arbeiten die Museen einzeln mit den sogenannten Herkunftsländern zusammen. Die Stiftung könnte ein Ort sein, wo emotionales Wissen verankert ist, das den Museen fehlt. Sie haben sich jahrelang weggeduckt, ja Rückgaben verhindert. Nun müssen Taten folgen.

Warum ist das so wichtig?
Es geht nicht darum, dass wir anderen etwas Gutes tun, sondern wir tun es auch uns selbst, wenn wir Objekte zurückgeben. Ich möchte nicht durch die Welt reisen und mir den Vorwurf anhören, mein Land hat die Gebeine von Menschen anderer Länder im Museum. Ich würde das auch nicht meinen Kindern und Kindeskindern überlassen, sondern selbst erledigen wollen.

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