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Die Berliner Autorin und Journalistin Carolin Emcke erhielt 2016 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

©  Andreas Labes

Carolin Emcke zur Coronakrise: „Normalität nur für einige, aber nicht für alle? Das wäre entmündigend“

Die Berliner Publizistin Carolin Emcke über schwierige Entscheidungen der Politik und die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Lernprozess.

Frau Emcke, große Teile der Gesellschaft befinden sich gerade in einer doppelten Hyperfokussierung, einerseits thematisch, andererseits topografisch. Alles dreht sich nur noch um ein Thema, gleichzeitig bewegen wir uns fast nur noch im unmittelbaren Nahraum. Wie erleben Sie das?
Das ist eine gute Formulierung, „Hyperfokussierung“. Die Pandemie ist wie ein monolithischer Block vor uns, von dem wir uns nicht losreißen können. Das ist auch erschöpfend, weil wir nicht absehen können, wann sich wieder etwas anderes einstellt, wann wir uns wieder anderen Themen zuwenden können, die uns momentan vielleicht profan erscheinen.

Aber ich muss zugeben: die Komplexität dieser Krise, wie sich ethische, ökonomische und politische Fragen ineinander verzahnen, und immer noch diese Lücke des Nicht-Verstehens des Virus selbst offen lassen – das reizt mich auch analytisch. Am bittersten empfinde ich es, mich an andere Orte, zu anderen Menschen zu denken, die ich von vielen Reisen kenne, und mir auszumalen, wie dramatisch sie dort wohl noch getroffen werden: im Irak oder in Bolivien.

Die globale Dimension der Krise wird immer sichtbarer.
Ja. Das ist schon auch ein Paradox. Obwohl die WHO früh von einer Pandemie gesprochen hat, wurde das Globale lange verdrängt. Das ist absurd: Jahrzehntelang diskutieren wir über die Globalisierung auf jedem Podium, mal kritisch, mal zustimmend. Aber wir haben die Globalisierung doch alle als gesicherte Tatsache genommen.

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Nun kommt es zu einer Viruserkrankung in China, alle schauen hin, aber tun so, als sei China nur China, als gäbe es keine Mobilität, keine ausgelagerten Produktionen, keine Touristen, eben keine Globalisierung. Als sei eine Krankheit in China nur eine Krankheit in China. Als hätten die irgendwie andere Körper, andere Kontakte als der Rest der Welt.

Eine Mischung aus westlicher Arroganz, Naivität und Rassismus.
Ja. Und schon auch gespenstischer Provinzialität.

Hierzulande wurde stark zeitverzögert reagiert, doch dann kam es zur größten Einschränkung der Grundrechte seit Bestehen der Bundesrepublik. Daran gibt es nun zunehmend Kritik. Die Schriftstellerin Juli Zeh, die auch ehrenamtliche Verfassungsrichterin ist, findet etwa, es habe keine ausreichende demokratische Diskussion stattgefunden. Wie schätzen Sie das ein?
Es sind natürlich massive Einschränkungen demokratischer Freiheitsrechte. Das ist ausgesprochen prekär. Aber ich hatte den Eindruck, dass die öffentliche Kritik von Bürgerrechtler*innen, Jurist*innen und Aktivist*innen an bestimmten Plänen und Verfahren gehört und ernst genommen wurde.

Da war ein politischer Lernprozess erkennbar. Dass nicht das Kabinett allein über solche Ausnahmesituation befinden darf, sondern das Parlament, dass Apps, die Bewegungsprofile erstellen, nicht einfach personalisiert und gegen den Willen der Betroffenen genutzt werden dürfen. Ich habe den Eindruck, es braucht die öffentliche Kritik, es braucht ein demokratisches Korrektiv – aber das ist auch da.

Eine weitreichende Einschränkung ist das Demonstrationsverbot, das in seiner Absolutheit schwer nachvollziehbar ist. Es sind ja auch Protestformen denkbar, bei denen die Abstandsregeln nicht verletzt werden. Müsste da nicht nachgebessert werden?
Ja. Unbedingt. Wenn nun Kriterien erörtert werden, die eine schrittweise Renormalisierung erlauben sollen, dann können wir nicht nur über die Bedingungen reden, unter denen Kneipen oder Schulen oder Theater wieder geöffnet werden dürfen. Sondern dann muss es auch um Demonstrationen gehen. Das ist ein existentielles Grundrecht der Demokratie.

Die Lockerung des Kontaktverbots wird derzeit diskutiert und es ist absehbar, dass einige Gruppen länger Einschränkungen hinnehmen müssen. Wie sehen Sie das?
Diese Hierarchisierung der Bevölkerung in Jüngere, Fittere und Ältere beziehungsweise Vorerkrankte ist auch beunruhigend. Die einen sollen wieder arbeiten und die Wirtschaft auf Trab bringen, während die anderen weiter isoliert leben müssen? Normalität nur für einige, aber nicht für alle? Das wäre so entmündigend wie stigmatisierend.

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Aber ehrlich gesagt: Ich weiß auch nicht, wie eine gerechte, fürsorgliche Regelung aussehen könnte, die die Zeit bis zur Entwicklung eines Impfstoffs überbrückt. Das gehört zur Wahrheit dazu. Ich beneide diejenigen nicht, die das entscheiden sollen, was nicht leicht entscheidbar ist.

Vom Lockdown hart getroffen ist die Kulturbranche. Sie liegt in großen Teilen brach und gilt als nicht systemrelevant.
Eine Definition, der erschütternd wenig widersprochen wurde. Dass Theater- und Konzertsäle aufgrund der im Publikum bestehenden Nähe als Orte erhöhter Ansteckungsgefahr gelten, ist nachvollziehbar. Aber Literatur, Musik und Theater sind ja keine alte Brosche, überflüssiger Schmuck, den man jetzt mal eben ins Kästchen legt. Kultur braucht es zum Überleben, sie ist unverzichtbar.

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Viele isolierte Menschen würden ohne Filme, Musik, Bücher sicher durchdrehen.
Ja. Tausende hören jeden Abend Igor Levit auf Twitter spielen, die Zugriffszahlen auf die Archivstreams der Theater sind spektakulär. Auch ich bekomme auf das Journal, das ich online für die „Süddeutschen Zeitung“ schreibe, erstaunliche Reaktionen. Viele von uns verausgaben sich, von Entschleunigung keine Spur.

Aber damit versuchen wir natürlich auch, uns dieser offiziellen Entwertung mit dem Label „systemirrelevant“ zu widersetzen. Niemand wird nach der Krise behaupten können, es ginge ohne Kunst oder Kultur oder ernsthaften Journalismus.

Zu den Theatern mit einem Onlineangebot gehört die Schaubühne, der Sie durch Ihre Diskussionsreihe „Streitraum“ verbunden sind. Phantomschmerz?
Ja. Brutal. Mir fehlt die Schaubühne. Mir fehlt das Gebäude. Mir fehlt der Geruch. Mir fehlen die Kartenabreißer*innen. Mir fehlt der Austausch mit den Gästen auf der Bühne und dem Publikum im Saal. Den „Streitraum“ mache ich seit 15 Jahren. Das ist nicht nur eine Tradition. Das ist schon auch mein Zuhause. Aber noch ist nichts ausgefallen. Die letzte Diskussion war Anfang März, die nächste wäre Ende April.

Wollen Sie den "Streitraum" ins Netz verlegen? 
Das wissen wir noch nicht. Falls das Theater öffnen kann, wäre es wunderbar. Aber wir bereiten uns darauf vor, dass wir ins Netz umziehen. Stattfinden wird der "Streitraum" so oder so. Aber langfristig sehne ich mich danach, dass wir wieder im Theater sitzen können. Und auch dass ich meinen Soloabend "Ja heißt Ja und..." wieder zeigen kann.

Sie schreiben in Ihrem Online-Journal, die Krise sei eine Chance, „die totale Privatisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche infrage zu stellen.“ Was gibt Ihnen diese Hoffnung?
Weil uns nie schmerzlicher vor Augen geführt wurde, was die umfassende Ökonomisierung anrichtet. An Italien oder Spanien sehen wir, was passiert, wenn die soziale Infrastruktur durch Austerität so ausgehöhlt wird, dass das Gesundheitswesen kollabiert. Wozu es öffentliche Güter, öffentliche Transportmittel, öffentlichen Rundfunk und ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem, das sich jede*r leisten kann, braucht, das kann zurzeit ja nicht mal die AfD leugnen – weswegen sie gerade auch erfreulich still ist.

Grafik-Social Distancing während der Coronavirus-Krise
Klicken Sie auf das Symbol um die komplette Grafik zu sehen.

© Tagesspiegel/Cremer

Eine Art Systemwechsel?
Ich weiß nicht. Sicher ist doch nur: Wie viele Krisen, wie viele Finanzschocks sollen denn noch kommen, bis wir etwas lernen? Es darf sich nicht immer nur wiederholen. Die Frage ist doch, ob sich aus dem Ausgang aus dieser Krise jene Restrukturierungen, jene Transformationen angehen lassen, die uns durch die Klimakrise ohnehin abverlangt werden und die bislang systematisch verhindert wurden. Es muss schon eine soziale, ökologische Lehre aus dieser Zeit gezogen werden.

Klingt optimistisch.
Ich halte es für politisch fatal, immer von vornherein jede gesellschaftliche Veränderung für unmöglich zu erklären. Das ist autodestruktiv. Da amputiert man sich seine politischen Utopien. Es braucht immer beides: den politischen Unmut, die öffentliche Kritik, aber auch eine politische, soziale, kulturelle Sehnsucht. Mal abgesehen davon, hätten Sie gedacht, wie schnell Olaf Scholz den Fetisch der Schuldenbremse kassiert, wenn er muss? Wenn das bis vor Kurzem noch Undenkbare möglich geworden ist, dann geht noch was.

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