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Klavierstudentin Laura (Paula Beer) steckt in einer Sackgasse, überlebt einen Autofall und braucht Trost.

© Schramm Film

Christian Petzolds Kinodrama „Miroirs No. 3“: Das Summen der Lebensfäden

Eine Geschichte von Verlust und Heilung: Barbara Auer und Paula Beer brillieren in Christian Petzolds fein gesponnener Uckermark-Elegie „Miroirs No. 3“ als Verlorene, die einander aufrichten.

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Das Geschrei der Zugvögel – Wildgänse sind es, womöglich gar Kraniche – zaubert ein Lächeln auf Lauras Gesicht. Durch das Fenster ihrer Wohnung in Berlin tönen die Rufe, als sie sich in einem Moment der Rückschau an die Spätsommertage in der Uckermark erinnert. Dort war das Vogelgeschrei am hohen Himmel eine allgegenwärtige Klangkulisse. Leiser, aber dauerhaft präsenter als die Klavierstücke von Chopin oder Maurice Ravels Miroirs No. 3, das Christian Petzolds raffiniert schlichter Geschichte von Verlust und Heilung den Namen gibt.

Laura, gespielt von Petzolds Stammstar Paula Beer, ist eine Verlorene. Mit löchrigem Pullover und abwesendem, verstörten Blick fährt sie mit ihrem Freund Jakob und dessen Produzenten auf einen Ausflug.

Die anderen hören im roten Cabrio Musik, plaudern, nur Laura gehört nicht dazu, scheint wie hinter einer Wand aus Glas gefangen. Herausgefallen aus dem Leben. Einer seltsamen Laune des Schicksals folgend, ist es aber ausgerechnet sie, die den folgenden Autounfall überlebt.

Betty (Barbara Auer) ist in Trauer, aber sie nimmt sich, ohne zu zögern, der Zufallsbekanntschaft Laura (Paula Beer) an.

© Schramm Film

Die schwarz gekleidete Frau, die am Ortsausgang einen Zaun streicht und die junge, vorbeifahrende Frau intensiv mustert, nimmt sich Lauras nach dem aus der Ferne scheppernden Crash an. Betty (Barbara Auer) ist von einer ebenso diffus dunklen Aura umgeben wie Laura. Ohne große Worte nehmen sie einander wie Mutter und Tochter an.

Zu Beginn verrät Petzold nichts

Christian Petzold verrät zu Beginn von „Miroirs No. 3“, der beim Festival in Cannes in der Nebenreihe Quinzaine de Cinéaste uraufgeführt wurde, nichts über seine Protagonisten. Seelenruhig addiert er Taten, Zeichen und vor allem Auslassungen, bis sich nach und nach das Bild einer Klavierstudentin in der Lebenskrise und einer Familie zusammensetzt, die ein Mitglied verloren hat.

„Jelena“ nennt Betty Laura einmal versehentlich. Und schon ahnt man, dass die mütterliche Fürsorge, die sie ganz selbstverständlich einer völlig fremden jungen Frau angedeihen lässt, eigentlich der verlorenen Tochter gilt.

Das bekommt auch Laura mit. Spätestens als Bettys Mann Richard (Matthias Brandt) und ihr Sohn Max (Enno Trebs), die sich vor Bettys allumfassender Trauer in ihre Autowerkstatt verzogen haben, auf den Plan treten. Bei Königsberger Klopsen, die Laura gekocht hat, beobachten sie perplex, welche Kräfte zwischen ihr und Betty wirken. Und begreifen, dass es Lauras Anwesenheit zu verdanken ist, dass die versteinerte Betty wieder zu lächeln und zu leben beginnt. Also spielen sie mit.

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Die vier Hauptdarsteller und Hauptdarstellerinnen, allesamt bewährte Mitglieder der Petzold-Familie, von denen drei auch 2023 beim Silbernen-Bären-Gewinner „Roter Himmel“ dabei waren, verstehen es wie im Schlaf, in diesem fast ein wenig märchenhaften Limbo in der sommerhellen Uckermark (Kamera natürlich: Hans Fromm) mit Konzentration und minimalen gestischen und mimischen Mitteln zu bestehen. Wobei man Matthias Brandt die etwas übermetaphorische Autoschrauber-Existenz (Vati kann alles reparieren, nur nicht die Seelen) nicht abnimmt, was dem Sog der Erzählung aber kaum schadet.

Eine Zeichenübung, die unversehens Gemälde wird

Dialoge und Handlungen sind einfach und alltäglich – Zaun streichen, Kaffee trinken, Elektrogeräte und Fahrrad reparieren, Kuchen essen, Bier trinken, was Wahlverwandte halt so machen –, und doch ist das Summen der unsichtbaren Lebensfäden, die alles miteinander verbinden, ebenso spürbar wie Lauras und Bettys Geheimnisse.

Das Klavierspiel der UdK-Studentin ist es, das alle in einem Moment der Wahrheit zwingt, kurz ihre Masken fallen zu lassen. „Miroirs No. 3“ wirkt wie eine vorsichtig hingestrichelte Zeichenübung, aus der ganz nebenbei ein lebenspralles Gemälde mit vielen Farben wird.

Sohn Max (Enno Trebs, l., verdeckt) und Ehemann Richard (Matthias Brandt) staunen über das Einvernehmen von Betty (Barbara Auer) mit der fremden Laura (Paula Beer, r.).

© Schramm Film

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? In diesem Drama ist die Antwort ja, auch wenn Laura wütend reagiert, als sie von Max die Wahrheit über den Tod der Tochter der Familie erfährt und sich die Selbstlosigkeit von Bettys Mütterlichkeit als Fake erweist.

Lauras Reaktion fällt auch deswegen so schroff aus, weil sie sich in ihrer Not in die angebotene Wärme fallen ließ, ohne die Fragen zu stellen, die sich angesichts von Bettys Trauerkleidung und anderer Zeichen aufdrängen. Gerade das Unausgesprochene dieser Täuschung setzt die Möglichkeit zu beider Heilung in Gang.

Bei Petzold bekommen schlichte Handlungen diesmal viel mehr therapeutisches Gewicht als Wörter, die auch der Kommunikation der Blicke deutlich nachgeordnet sind. Das war bei „Roter Himmel“ zuletzt anders. Da wurde in einem vom Waldbrand bedrohten Wochenendhaus in der Nähe der Ostsee noch Heinrich Heine zitiert und eitles Schriftstellergehabe ironisiert.

Dass Christian Petzold es jetzt bei den Bildungsverweisen mit Chopin, Ravel, dem Standard „You Go to My Head“ und „The Night“ von Frankie Valli in musikalischer Form bewenden lässt und der Geschichte ansonsten Stille und erdende Naturgeräusche wie Wind und Zugvögelrufe verordnet, tut diesem „kleinen“, die Kraft des tätigen Trostes in einer schmerzhaften Welt beschwörenden Film zusätzlich gut.

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