
© Ulli Lust: „Die Frau als Mensch“ / Reprodukt
Die besten Comics des Jahres: Ulli Lusts „Die Frau als Mensch“ führt Kritiker-Bestenliste für 2025 an
30 deutschsprachige Journalistinnen und Journalisten haben die besten Comics des Jahres gewählt. Hier gibt es das Ergebnis.
Stand:
Es wurde im Sommer 2025 als erster Comic überhaupt mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet, stand weit oben auf der „Spiegel“-Bestsellerliste und führt im aktuellen Weihnachtsgeschäft die Bestsellerliste von Prolit an, die die Top-Titel von rund 170 unabhängigen Verlagen präsentiert.
Jetzt hat „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ (Reprodukt, 256 Seiten, 29 Euro), das aktuelle Buch der Berliner Autorin und Zeichnerin Ulli Lust, eine weitere Auszeichnung bekommen: Es wurde von einer Jury aus 30 Comicfachleuten zur besten Veröffentlichung des Jahres gewählt.
Die Jury besteht aus 30 deutschsprachigen Journalistinnen und Journalisten, die alle drei Monate die aus ihrer Sicht besten neuen Comic-Veröffentlichungen bewerten. Der Tagesspiegel präsentiert die Ergebnisse in Kooperation mit der Fachzeitschrift „BuchMarkt“, der Website Comic.de und dem RBB-Sender Radio 3. Die Jahresbestenliste ergibt sich aus den kumulierten Abstimmungsergebnissen der vergangenen vier Quartale.
In „Die Frau als Mensch“, dessen zweiter Teil im Februar 2026 beim Berliner Reprodukt-Verlag erscheinen soll, rekapituliert die international erfolgreiche Berliner Zeichnerin („Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“) neue Erkenntnisse zur menschlichen Frühgeschichte, in denen Frauen eine wichtigere Rolle als in der klassischen Ethnologie und Archäologie zukommt.
Die Dekonstruktion klassischer, meist männlich geprägter Narrative über Männer, Frauen und die Entwicklung der Menschheit ist eines der verbindenden Elemente der Episoden in Lusts Buch. Ausgehend von der eigenen Verwunderung darüber, dass Frauenkörper und weibliche Sexualität in heutigen Gesellschaften grundlegend anders als die von Männern behandelt werden, spürt die 58-Jährige der Frage nach, woher das kommt und ob es auch anders geht.
Sie verbindet das mit persönlichen Anekdoten und humorvollen Beobachtungen zum Verhältnis der Geschlechter in der Gegenwart. Dieser Titel ist auch im Ausland gefragt, wie das „Börsenblatt“ kürzlich meldete: Nach Angaben des Reprodukt-Verlags wurden demnach bislang Lizenzen nach China, Frankreich, Italien, Südkorea, Polen, Schweden, Spanien und in die USA verkauft. Mehr zu Ulli Lusts Buch hier.
Auf Platz zwei der kumulierten Kritiker-Liste kam eine weitere deutsche Eigenproduktion: „Schweigen“ (Avant, 368 Seiten, 39 Euro), das neue Buch der Hamburger Comicautorin Birgit Weyhe, die einige Jahre lang auch für den Tagesspiegel gezeichnet hat. In ihrem dokumentarischen Werk arbeitet sie die Verbrechen der Militärdiktatur in Argentinien auf und untersucht deutsche Verstrickungen mit dem Regime.
Weyhe zeichnet in „Schweigen“ die Schicksale zweier in Argentinien lebender Frauen mit deutschen Wurzeln nach. Sie wurden auf unterschiedliche Weise zu Opfern der Diktatur, deren Verbrechen auch 40 Jahre später nur teilweise aufgearbeitet und juristisch geahndet sind.
Zeichnerisch nutzt die in Deutschland geborene und in Ostafrika aufgewachsene Weyhe ein von ihr in den vergangenen 15 Jahren etabliertes visuelles Vokabular. Das kennt man bereits aus ihren vielfach prämierten Büchern „Madgermanes“, „Rude Girl“ oder „Lebenslinien“, in denen außergewöhnliche, in der Regel mehrere Kulturen verbindende Biografien vermittelt werden. Eine ausführliche Rezension von „Schweigen“ gibt es hier.
Auf Platz drei der Bestenliste kam das neue Buch des Belgiers Olivier Schrauwen, der seit vielen Jahren in Berlin lebt: „Sonntag“ (aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne, 472 Seiten, 45 Euro). Auf fast 500 Seiten zeichnet Schrauwen minutiös einen Tag im Leben seines Protagonisten nach. Meisterhaft spielt er in seiner zuerst als Heftreihe bei Colorama veröffentlichten Erzählung mit den formalen Möglichkeiten der Kunstform Comic und erweist sich ein weiteres Mal als reflektierter Erzähler.
Mit diesem neuen Werk, an dem er sechs Jahre gearbeitet hat, ist Schrauwen ein beachtliches Kunststück gelungen: Während der Sonntag, den sein ziemlich unsympathischer und grobschlächtiger Protagonist erlebt, an Eintönigkeit kaum zu überbieten ist, ist das Buch „Sonntag“ außergewöhnlich witzig, klug und unterhaltsam.
Die Hamburger Zeichnerin Isabel Kreitz kam mit ihrem neuen Buch „Die letzte Einstellung“ (Reprodukt, 312 Seiten, 29 Euro) auf Platz vier. In dessen Mittelpunkt steht die fiktive, Erich Kästner nachempfundene Figur des Schriftstellers Heinz Hoffmann, der sich nach der Machtübernahme Hitlers 1933 entscheidet, trotz seiner Ablehnung der Nationalsozialisten und eines Berufsverbots als Autor in Deutschland zu bleiben.
Die Folgen dieser Entscheidung vermittelt Kreitz in handwerklich meisterhaften, naturalistisch gehaltenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Am Beispiel Heinz Hoffmanns erzählt Kreitz von Widersprüchen und Konflikten, die mit dem Alltag im NS-Staat einhergingen, wenn man sich als Hitler-Kritiker verstand, aber unter dessen Regime überleben wollte. Mehr zu dem Buch hier.
Auf Platz fünf kam der Franzose Luz mit „Zwei weibliche Halbakte“ (aus dem Französischen von Lilian Pithan, Lettering: Minou Zaribaf/Font: Luz, Reprodukt, 192 Seiten, 29 Euro). In dieser Graphic Novel erzählt der ehemalige „Charlie Hebdo“-Zeichner anhand eines Gemäldes vom Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. Das Besondere dabei: Die gesamte Handlung wird aus Sicht von Otto Muellers Bild „Zwei weibliche Halbakte“ erzählt, das so zur Hauptfigur der Geschichte wird. Mehr über das Buch und seinen Autor hier.
Romain Renards Neo-Western-Thriller „Wiedersehen mit Comanche“ (Übersetzung Anne Bergen, Splitter-Verlag, 152 Seiten, 35 Euro) landete auf dem sechsten Platz. Der belgische Zeichner taucht mit seinem Werk tief in die Geschichte der USA ein – und in die des europäischen Comics. Sein Album um den einstigen Wild-West-Revolverhelden Cole Hupp, besser bekannt als Red Dust, ist eine Hommage an die 70er-Jahre-Westernserie „Comanche“ von Hermann Huppen und Michel Louis Albert Régnier alias Greg.
Auf Platz sieben kam die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller, dessen Geburtstag sich gerade zum 150. Mal jährte: „Mein Freund Rilke“ (Carlsen, 192 Seiten, 26 Euro) von Melanie Garanin. Die Berliner Comiczeichnerin versetzt den Dichter anlässlich des Jubiläums in das Jahr 2025. „Ein kluges Aufeinandertreffen von Wirklichkeit und Fiktion“, urteilte Birte Förster in ihrer Rezension des Buches im Tagesspiegel.
Den achten Platz teilen sich zwei Bücher, die beide exakt die gleiche Punktzahl bekamen.
Das eine ist der Hardcover-Sammelband einer viel gelobten US-Krimireihe, die derzeit für Amazon Prime verfilmt wird: Die Deluxe Edition von Ed Brubakers und Sean Phillips’ „Criminal“ (Band 1, Übersetzung Bernd Kronsbein und Resel Rebiersch, Schreiber & Leser, 432 Seiten, 49,80 Euro). Die düsteren Episoden, in denen Kriminelle und Berufsverbrecher im Zentrum stehen, sind von klassischen Noir-Krimis inspiriert. Mehr dazu hier.
Ebenfalls auf Platz acht kam ein Titel aus Japan, von dem kürzlich der zweite Band erschienen ist: Taiyo Matsumotos „Tokyo dieser Tage“ (aus dem Japanischen von Daniel Büchner, Lettering: diceindustries/Font: Uli Oesterle, Reprodukt, je 240/216 Seiten, je 20 Euro). In dem auf drei Bände angelegten Werk erzählt der Japaner, dessen Zeichenstil eher an westliche Independent-Comics als an Mainstream-Manga erinnert, dieses Mal nicht wie in mehreren früheren Werken von jugendlichen Außenseitern oder übernatürlichen Phänomenen, sondern es geht um die Beziehungen zwischen Mangazeichnern und ihren Redakteuren sowie um das Lebensgefühl in Tokyo.
Platz zehn belegt Jacques Tardis Album „Nestor Burma: Rififi in Menilmontant“ (Übersetzung: Resel Rebiersch, Verlag Schreiber & Leser, 200 Seiten, 29,80 Euro). Darin beschert der französische Comicveteran dem von Léo Malet (1906–1996) geschaffenen Pariser Privatdetektiv Nestor Burma nach rund 25 Jahren ein neues Abenteuer. Die in der Vorweihnachtszeit angesiedelte Geschichte spielt im 20. Pariser Arrondissement, wo auch Tardi selbst lebt. Mehr zu diesem Titel hier.
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