
© Barbara Braun / TIPI AM KANZLERAMT
Das Berlin-Musical „Cabaret“ feiert Jubiläum: Großer Bahnhof im Kit Kat Club
Jubel wie vor 20 Jahren und jede Menge Politik. Die Jubiläums-Premiere des Berlin-Musicals „Cabaret“ im Tipi am Kanzleramt gerät zu einem Appell für Vielfalt und Demokratie.
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So viel Prominenz aus Politik und Kultur lässt sich selten bei der Jubiläumsvorstellung eines Musicals sehen. Einstige Regierende Bürgermeister, Senatoren, Staatssekretärinnen, Kulturmenschen wie Peter Raue und die übliche Phalanx aus Schauspielern, Sängerinnen und Theaterleitern. Sie alle wollten Samstagabend wieder einmal „Cabaret“ sehen, den 1966 am Broadway uraufgeführten Berlin-Musical von John Kander und Fred Ebb.
20 Jahre ist es her, dass Holger Klotzbach und Lutz Deisinger, die Chefs von Bar jeder Vernunft und Tipi am Kanzleramt, die Show in der Inszenierung von Vincent Patterson in das kleine Spiegelzelt holten. Man kann sich noch sehr gut erinnern, wie Anna Loos und Katharine Mehrling als die ersten beiden Hauptdarstellerinnen von Sally Bowles, sich damals auf der Minibühne räkelten.
Und wie der spektakuläre Pappmaché-Zug erstmals über die Bühne tuckerte, die den Schriftsteller Clifford Bradshaw, das Alter Ego des Literaten Christopher Isherwood, dessen Berlin-Romane dem Stück zugrunde liegen, ins Berlin des Jahres 1929 bringt.
Längst hat sich der Klassiker - nur durchbrochen von den Corona-Jahren - als Sommerbespielung im größeren Tipi am Kanzleramt etabliert, wo sich häufig Touristen von der legendären Atmosphäre des Berlins der 20er Jahre bespaßen lassen, ums sich dann beim im wohligen Bewusstsein, dass das alles vergangen und erledigt ist, vor dem aufkommenden Nationalsozialismus zu gruseln.
Der ist es nämlich, der am Schluss von „Cabaret“ die schrille und höchst amüsante Berliner Mischung aus Feierbiestern, Unterhaltungskünstlerinnen, Juden, Homosexuellen und kleinen Leuten auseinandersprengt.
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„Cabaret“, dessen Verfilmung von Bob Fosse 1972 mit Liza Minnelli, Joel Grey und Helmut Griem acht Oscars einsammelte, ist Unterhaltung mit legendären Songs und einem höchst ernsten Hintergrund. Und der brennt den Machern des Tipi am Kanzleramts und ihren Jubiläumsrednern wie Katharine Mehrling, Klaus Wowereit und Peter Raue an diesem Abend sichtlich genauso unter den Nägeln wie dem Publikum.
In der Kroll-Oper billigte der Reichstag das „Ermächtigungsgesetz“
Hausdame Marlene erinnert eingangs daran, dass unweit des Theaterzeltes das Magnus-Hirschfeld-Institut für Sexualwissenschaft lag, wo der homosexuelle Christopher Isherwood in seinen ersten Berlin-Wochen unterkam. Und die Nachbarschaft zur einstigen Kroll-Oper, wo der Reichstag 1933 das „Ermächtigungsgesetz“ billigte, das die Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglichte. 70 Jahre nach Ende des Faschismus sei das Stück brandaktueller denn je, betont Marlene.
Ron Prosor, der israelische Botschafter
Die Festredner Katharine Mehrling und Klaus Wowereit stoßen anschließend in dasselbe Horn. Angesichts des Erstarkens rechter Kräfte im Land, sei es nötig, zu kämpfen. Für die Demokratie und die Freiheit von Kunst und Kultur. Und Klaus Wowereit, der frei und aufgeräumt wie zu alten Bürgermeister-Zeiten redet, begrüßt nicht von ungefähr als einzige Exzellenz den israelischen Botschafter Ron Prosor im Publikum. „Wir wünschen Israel und der Region einen Frieden, der trägt“, ruft Wowereit unter starkem Applaus.
Unterstützt von verschiedenen Senatsverwaltungen wird das Tipi Schüler-Vorstellungen für „Cabaret“ anbieten. Mit den Mitteln des Entertainments, bei jungen Menschen Sensibilität für die deutsche Vergangenheit und Themen wie Antisemitismus und Schwulenfeindlichkeit zu schaffen. Mal schauen, ob der ambitionierte Plan funktioniert.
Und dann tuckert endlich der Zug über die Bühne, der den Schriftsteller in die Stadt bringt und Conférencier (Mathias Schlung) stimmt den Opener „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ an. Er und Maria Danaé Bansen als Sally Bowles sind das Pfund der Show, deren so oft gehörte Songs und Dialogsätze einem - mit Blick auf die politische Entwicklung - immer wieder den Atem stocken lassen.
Etwa als Herr Schultz (Dirk Schoedon), der jüdische Obsthändler, dem die SA schon Äpfel klaut und Scheiben einschmeißt, sagt: „Das geht vorbei, ich kenne die Deutschen, schließlich bin ich selber einer.“ Oder als Clifford Bradshaw zur politisch komplett desinteressierten Sally Bowles sagt: „Wenn man nichts gegen diese Rassistenpolitik unternimmt, ist man dafür.“ Dieser rauschende, umjubelte Premierenabend hinterlässt alles andere als ein wohliges Entertainment-Gefühl.
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