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Der demente Anthony (Anthony Hopkins) verliert allmählich den Bezug zur Realität.

© Tobis Verleih

Das Demenzdrama "The Father" im Kino: Der zersplitterte Spiegel

Innenansicht eines dementen Bewusstseins. Anthony Hopkins wurde für seine Hauptrolle im Familiendrama "The Father" mit dem Oscar ausgezeichnet.

Wer die alten Eltern im Pflegeheim besucht, kennt diese Szenen. Nein, ich wohne nicht hier!, schimpft der Rollstuhlfahrer verzweifelt. Das ist sehr böse, wenn Sie behaupten, hier sei mein Zuhause. Der Pfleger versucht ihm klarzumachen, dass jetzt erstmal die Windeln gewechselt werden müssen.

Mit der Körperhygiene scheint Anthony (Anthony Hopkins) keine Probleme zu haben – soviel Zugeständnis ans Kinopublikum musste offenbar sein. Dennoch nähert sich dieser Film einem dementen Menschen auf eine Weise, die seine Würde bewahrt, ohne die Krankheit zu beschönigen. Florian Zellers Familiendrama „The Father“ geht dabei radikaler vor als „An ihrer Seite“ mit Julie Christie oder „Still Alice“ mit Julianne Moore: Er zeigt das Geschehen aus Anthonys Perspektive, mit den Augen eines Menschen, dessen Bewusstsein mehr und mehr erodiert. Erinnerungslücken, Zeitsprünge, Wiederholungsschleifen, Verwechslungen – auch die räumliche Ordnung gerät durcheinander. Wo ließe sich das besser erzählen als im Kino, das ja selber unentwegt zwischen Realität und Imagination changiert.

Der wohlhabende Anthony, 83, vor der Rente als Ingenieur tätig, lebt in einer weitläufigen Londoner Altbauwohnung. Hier, zwischen gemütlichen Sofas und gediegenem Mobiliar, hört er gerne Opernarien, Purcell, Bellini, Bizet, an den Wänden hängt wertvolle Kunst, auch von seiner Tochter, der Malerin Lucy, die vor einigen Jahren tödlich verunglückte, wie sich herausstellt. Anne, die andere Tochter (Olivia Colman), kümmert sich aufopfernd um ihren Vater. Aber sie will wegziehen, nach Paris, der Liebe wegen.

Da ist es ein Problem, dass Anthony gerade die dritte Pflegerin mit seinem herrischen Naturell vertrieben hat. Bald stellt sich die nächste Pflegekraft vor: Und weil Laura (Imogen Poots) ihn an die verschwundene Lucy erinnert, wandelt sich Anthony vom Tyrannen zum Charmeur, kredenzt Whiskey, tanzt und steppt ihr etwas vor.

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Aber es ist wie verhext. Mal steht ein fremder Mann (Mark Gatiss) in seiner Wohnung, der behauptet, er sei Annes Ehemann Paul (Rufus Sewell). Mal sieht Anne selber ganz anders aus (Olivia Williams) und beteuert, keineswegs nach Paris umzuziehen. Mal steht Anthony morgens im Schlafanzug da, aber es ist doch Abend, sagt Anne, und das Hühnchen brutzelt im Ofen. Die Küche sieht plötzlich auch ganz anders aus.

Die Wohnung wechselt je nach Zustand die Farben

Als Anthony dann wütend wird, weil er ahnt, dass er ins Heim soll – das böse Wort fällt im Film kein einziges Mal –, als er schreit „Ich gehe nicht aus meiner Wohnung!“, sagt sein Schwiegersohn, das hier sei doch gar nicht seine Wohnung, er lebe schon länger bei Anne und ihm. Eines Tages wechselt die Wohnung sogar die Farben, die Wände freundlich-hellblau, und kleiner ist sie jetzt auch. Und diese andere Anne sagt, sie heiße Catherine und sei seine Pflegerin. Wenn er bereit sei, sich anzuziehen, könnten sie im Park spazieren gehen.

(In 14 Berliner Kinos, auch OmU)

Der französische Dramatiker Florian Zeller, der mit Familientragödien und -komödien wie „Die Mutter“ oder „La verité“ bekannt wurde, inszeniert in seinem Regiedebüt nach seinem gleichnamigen Theaterstück die Innenansicht eines Menschen, dem jede Orientierung verloren geht. Ein Kammerspiel, gediegen wie die Wohnung als dem einzigen Schauplatz. Aber es lässt reichlich Raum für zwei grandiose Schauspieler.

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Für die Rolle des Anthony, der sich tapfer durch all die Verwirrungen schlägt und seine Umgebung in den Wahnsinn treibt, gewann Anthony Hopkins seinen zweiten Oscar; den ersten erhielt er 1992 für den denkbar konträren Part als Serienmörder Hannibal Lecter. Aber die Intensität, die Abgründigkeit sind ähnlich. Da schaut ein Mensch in einen zersplitterten Spiegel und hört nicht auf, nach seinem Ebenbild zu suchen. In Olivia Colman (die als Queen in „The Favourite“ ebenfalls mit einem Oscar ausgezeichnet wurde) hat Hopkins eine kongeniale Partnerin. Ihre Anne ist eine Königin der Contenance, der gleichwohl jede Regung hinter ihrer Engelsgeduld anzusehen ist.

Anthonys Opern-CD bleibt hängen, ein nerviger Loop. Die Musik hört nicht auf. Anthony sagt, er sei ein Baum, der alle seine Blätter verloren hat. Wenn er aus dem Schlafzimmer guckt, ist da keine Londoner Straße mehr, sondern ein Park voller Bäume. Auch der Rollstuhlfahrer im Heim schimpft immer weiter. Wer „The Father“ sieht, kommt seiner Verzweiflung auf einmal sehr nahe.

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