
Istanbuls Kulturszene: Das Kunstzentrum Piramid Sanat ist ein Ort der Freiheit
Gründer Bedri Baykam lässt sich nicht unterkriegen. Er zeigt die aufregenden Werke einer jungen, mutigen Kulturszene.
Die Handykamera wackelt. In der einen Hand hält Bedri Baykam das Mobiltelefon für seinen digitalen Rundgang, mit der anderen öffnet er die Tür zum Kunstzentrum Piramid Sanat. Es liegt einen Katzensprung vom legendären Gezi-Park entfernt, wo 2013 die großen Demonstrationen stattfanden. „Vier Minuten bis zum Taksim-Platz“, fügt der 63-jährige Künstler hinzu. Das sechsstöckige Gebäude liegt im Herzen Istanbuls und scheint doch unberührt von den bedrückenden Umständen rundum – der Zensur, der Repression, der Angst.
Es ist ein Ort erstaunlicher Freizügigkeit geblieben, trotz der restriktiven Maßnahmen, die seit der Niederschlagung der Proteste ergriffen wurden. Hier gab es eine Erinnerungsausstellung zum Jahrestag der Gezi-Proteste, zeigte Che Guevaras Sohn Camilo seine Fotografien.
Das Galeriehaus darf trotz Corona weiter besucht werden
Dem Zentrum ist ins Programm geschrieben, dass es Kunst jeglicher Couleur präsentiert, sich nichts vorschreiben lässt. Wie die Museen der Stadt kann auch das vor 14 Jahren von Bedri Baykam gegründete Galeriehaus trotz Corona weiterhin besucht werden.
Er tritt nun schwungvoll ein, führt das Café im Erdgeschoss vor, wo ein ausgezeichneter Espresso serviert wird, wie er bemerkt. Im hinteren Bereich sitzen Mitarbeiterinnen an Schreibtischen, die Direktorin Öykü Eras winkt in die Kamera. An den Wänden stehen vollgepackte Regale mit Katalogen, Piramid Sanat gibt regelmäßig Publikationen zu den rund sechs Ausstellungen im Jahr heraus.
Bedri Baykam stellt international aus, auch in Berlin
Schon geht es die Treppe rauf zu den Galerie- und Ateliergeschossen, wo auch der Gründer sein Studio hat. Die Kamera gleitet vorbei an Plakaten früherer Ausstellungen, darunter von Baykam selbst, der auch in Berlin in der Akademie der Künste und dem Gropius Bau seine Bilder gezeigt hat.
1975 bis 1980 studierte er in Paris, anschließend Malerei und Film am California College of Arts in Oakland, 1987 kehrte er in die Türkei zurück. Der Sohn des populären Istanbuler Oberbürgermeisters, Suphi Baykam, ein liberaler Politiker und Kemalist, in dessen Amtszeit die 68er-Unruhen fielen und der Mitte der 1970er Jahre über eine Immobilienaffäre stolperte, war immer schon eine Ausnahme. Hier in seinem Kunstzentrum nimmt er sich eine besondere Freiheit, zeigt Kunst, die man in Istanbul nicht vermuten würde.
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Aktuell präsentiert Baykam unter dem Titel „Katarsis“ die Nachwuchskünstlerin Şevval Başalan. Die 24-Jährige malt raue, ungestüme Bilder, die an die Wienerin Elke Krystufek erinnern, die mit ihren Onanie-Performances Mitte der 1990er Jahre für Aufregung sorgte. Beide sind großartige expressive Malerinnen, die kein Tabu kennen. Allerdings erstaunt es, diesen Duktus, die ungeschützte Zurschaustellung bei einer jungen Türkin wiederzuentdecken – angesichts der Zwänge drum herum.
Dass Bedri Baykam nun voller Stolz ihr Werk vorführt, das zuvor schon in einer der jährlichen Nachwuchsausstellungen zu entdecken war, verwundert wiederum nicht. Baykam, wie sein Vater ein Kemalist, der in den vergangenen Jahren bereits für hohe Posten der Cumhuriyet-Halk-Partei gehandelt wurde, kann sich in Rage reden über die wachsende Unterdrückung insbesondere von Frauen unter Erdoğan.
Die Künstlerin tritt auf mit Hut und sexy Outfit
In Şevval Başalan, die nun mit Hut, sexy Outfit, rot geschminkten Lippen zur digitalen Führung stößt und sympathisch in die Kamera lacht, hat er eine Kämpferin für die eigene Sache gefunden, deren Ausdrucksform die Kunst ist.
Immer wieder reißen sich auf Başalan Bildern die Figuren selbst die Brust auf und zeigen das Innerste: die weißen Knochen des Brustkorbs, einen Schlund, der einer Vagina gleicht. In dem Gemälde „Der Ursprung der Welt“, das Courbets skandalträchtiges Bild zitiert, wird die Künstlerin noch expliziter. Aus dem weiblichen Unterleib, der im eigenen Blut liegt, schlüpft eine Ratte. Zweifellos ist eine Missbrauchsszene dargestellt, der gemalte Bauch weist blutige Schnitte auf.
Insekten kriechen aus Mündern, es fließt Blut auf den Bildern
Die junge Malerin liebt es drastisch, immer wieder taucht Ungeziefer auf, kriechen Insekten in die Münder. Als Farbe favorisiert sie ein fleischiges Rot. Auf einem Gemälde hängt saftig wie bei Francis Bacon eine Rinderhälfte am Schlachterhaken. Auf dem Bild „Zeit mit dem Fisch“ sind nicht etwa Fische ins Netz gegangen, sondern hängt eine undefinierbare rohe Masse im real auf die Leinwand montierten Maschenwerk.
Die Collage gehört zu den bevorzugten Techniken der Künstlerin. So setzt sie häufig weiße Spitze ein, die nach türkischer Tradition jungen Mädchen in einer hölzernen Kiste zur Hochzeit mitgegeben wird, wenn sie in den Haushalt des Bräutigams wechseln. Was Şevval Başalan davon hält, wird in einem anderen Gemälde deutlich, das tote Körper mit jener Spitze in einem Grab zeigt.
Başalan hat sich die Fesseln abgestreift
„In diesem Land bedeutet Heirat, beerdigt zu sein“, bekräftigt die Künstlerin die Aussage ihres Gemäldes. Von ihrer Befreiung handeln jene Bilder mit Hanfseilen, die locker von der Leinwand baumeln. Sie symbolisieren den vergeblichen Versuch ihres Vaters, sie zu verheiraten. Başalan hat sich diese Fesseln abgestreift.
Zu den Überraschungen der Ausstellung gehören Skulpturen, mit deren Produktion die Künstlerin während des Lockdowns begann. Sie besorgte sich Keramikmasse gleich um die Ecke, wie sie auch im Kunstunterricht an Schulen eingesetzt wird, und begann wilde Figuren zu formen: Köpfe mit Glubschaugen, aufgerissenen Mündern, verschlungenem Gedärm als Haar, seitlich ragen Zungen raus.
Die Künstlerin betreibt einen regelrechten Exorzismus, lungenartige blutige Gebilde tauchen als Verweis auf ihre Asthmaerkrankung auf. In manche sind Inhaliergeräte integriert. Sound gehört dazu, Lachen und Schreien, der sich bei der digitalen Führung kaum vermittelt.
Vor neun Jahren wurde Baykam Opfer eines Attentats
Die 26-Jährige beweist bemerkenswerten Mut, ihr Innerstes so nach außen zu kehren in einer Gesellschaft, die Frauen aus dem öffentlichen Leben drängt. Courage könnte sie auch bei Bedri Baykam gelernt haben. Vor neun Jahren wurde er mit seiner Assistentin bei einem Protest gegen den Abriss des „Menscheitsdenkmals“ in Kars nahe der armenischen Grenze, das für die Versöhnung zwischen Türken und Armeniern wirbt, durch einen Messerstecher schwer verletzt. Unterkriegen lässt er sich trotzdem nicht. Gut möglich, dass Baykam die Bekanntheit seines Vaters, aber auch sein Posten als Präsident der International Association of Art schützt, den er seit fünf Jahren innehat.
Die Verzweiflung unter den Künstlern Istanbuls wächst
Die Agonie in der Kulturszene der Stadt, verstärkt durch Corona, aber verspüren beide, auch wenn es einige Verkäufe aus der Ausstellung gab. Vor allem die unabhängigen Theater schlugen Alarm, dass sie ohne Zuschüsse vom Staat nach den verordneten Schließungen kaum wiedereröffnen werden. Noch größer ist die Verzweiflung unter den Musikern. Zuletzt kursierte die Zahl von 100 Selbstmorden.
Levent Çolakoğlu, Direktor des Istanbul Modern, eines privaten Museums, das von der Eczacıbaşı-Gruppe getragen wird, äußert sich verhalten auf Nachfragen, welche Folgen die Pandemie für den Kulturbetrieb hat. Sie habe wichtige Impulse gegeben für die Kommunikation der Institutionen untereinander, für neue Besucherangebote, andere Formen des Dialogs mit den Künstlern, schreibt er. Kunst sei immer schon der „Klebstoff“ gewesen, der Menschen zusammenhalte – gerade in schlechten Zeiten. Manche Künstler zerreißt es allerdings gerade.