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Die österreichische Schriftstellerin Olga Flor, 1968 in Wien geboren.

© Lisa Rastl/Verlag

Olga Flors Roman "Morituri": Das Moor und die Tautropfen

„Morituri“, Olga Flors hellsichtige und böse Roman-Parabel auf das Österreich unter dem „Buberlkanzler“ Sebastian Kurz.

Gelegentlich kann man im öffentlichen Nahverkehr Österreichs den Ausruf „Sekkieren's mi net!“ hören. Die dringende Aufforderung, das Ärgern und Belästigen einzustellen, kommt – wie die verwandte Form Sezieren – vom lateinischen „secare“ für schneiden. Olga Flors literarisches Werk hat das Sekkieren zur Kunstform erhoben.

Bereits mit ihrem Debüt „Erlkönig“ aus dem Jahr 2002 oder mit dem klaustrophobischen Alpendrama „Talschluss“ hat sich die 1968 in Wien geborene, heute in Graz lebende Physikerin als Virtuosin des Ensemble- und Familiendramas erwiesen.

Bei ihr verbindet sich der emotionslos analysierende Blick der Naturwissenschaftlerin mit dem Talent zur dramaturgisch breit angelegten Groteske. Hinzu kommt eine typisch österreichische Unerbittlichkeit, die durchaus an die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek erinnert.

In ihrem jüngsten Roman „Morituri“ nimmt Olga Flor die monströsen Machenschaften der politisch Verantwortlichen einer namenlosen voralpinen Gemeinde in den Blick.

Acht Personen, darunter die Bürgermeisterin, der Architekt und Aussteiger Maximilian sowie dessen Tochter Ruth, die sich zur Journalistin umschulen lässt, werden in gut sechzig Kurzkapiteln anhand ihrer inneren Monologe dargestellt. Der Blick auf das zunehmend absurde Geschehen ist also stets ein indirekter, der ohne Dialoge auskommt.

Das Moor: Chiffre der Unvergänglichkeit

Der Buchumschlag zeigt eine gelbe Kugel, der glänzende rote Stacheln entwachsen. An den Spitzen prangen Kügelchen, scheinbar infektionsbereit. Doch es handelt sich nicht um eine weitere wohlfeile Darstellung des Corona-Virus, sondern um den Sonnentau. Diese fleischfressende Pflanze fängt Insekten mit einer klebrigen Flüssigkeit, die wie Tau aussieht.

Der Sonnentau gedeiht besonders gut auf Moorböden. Das fruchtbare, aber auch alles verschlingende Moor hat es Olga Flor angetan. Fachlichen Rat holte sie sich unter anderem beim botanischen Garten im heimischen Graz. Das Moor symbolisiert einerseits die Vergänglichkeit des Menschen und seiner eitlen Projekte, lautmalerisch bereits vom Titel „Morituri“ angekündigt, der auf den Caesaren-Gruß „Morituri te salutant“ (die Sterblichen grüßen dich) anspielt.

Andererseits steht das Moor bei Flor aber nicht nur für schauerromantische Moorleichen, sondern ist eine Chiffre der Unvergänglichkeit: „Die Produktion organischer Substanzen übertrifft den Verlust durch Abbau, unter Luftabschluss will das nichts Rechtes werden mit dem Zerfall, die Pflanzenleichen sinken ganz unzersetzt zu Boden. Menschen auch, nur die Frage, ob auch aus ihnen Torf würde, blieb für den Augenblick ungeklärt.“

Mit einem Tautropfen auf dem Blatt eines Laubbaums in der Nähe eines Niedermoors beginnt der Roman, und mit demselben fallenden Tropfen endet er. Darin spiegelt sich die ganze Welt mit all ihren Intrigen und menschlichen Abgründen.

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Prolog und Epilog in Tropfenform stehen stellvertretend für den äußerst konzentrierten Erzählstil Flors. Er zeichnet sich dadurch aus, dass Abstraktionen und Sprachspiele originelle Verbindungen eingehen, bis hin zum Kalauer: „Die Ungarinnen erregen dich, die Slowakinnen pflegen dich.“

Ob vom „autochthonen Überschwang“ eines Bienenzüchters die Rede ist, von den Heilserwartungen der Städter an das längst zersiedelte Land voller „Schweinezuchthallen und Carports und den nicht mehr ganz taufrischen Fertighäusern“ oder vom „wohleinstudierten weiblichen Unterwerfungslächeln“: In diesem literarischen Minimundus findet alles Platz.

Der Tropfen erinnert aber ebenso an eine Szenerie im naturnahen Romanwerk Adalbert Stifters, der den Begriff vom sanften Gesetz prägte. Dieses Gesetz waltet auch in „Morituri“: So schlimm die Machenschaften der profitgierigen Bürgermeisterin Susi und ihres Umfeldes auch ausfallen mögen, das letzte Wort hat die Natur mit ihrer Hoheit über den Stoffwechselprozess.

Humanisten hier, korrupte Gestalten dort

Bedrohlich schmatzt das Moor in der Nähe der aufstrebenden Gemeinde, die ihren Wohlstand mit dem sogenannten Good Life Center befördern will, einem Zentrum für avancierte Biomedizin: In einer Klinik unterhalb des Moores, die sich als Wellness-Parcours tarnt, werden erste Versuche der Parabiose unternommen: „Lebensverlängerung! für Zahlungskräftige! Riesenthema!“.

Zu diesem Zweck lässt sich ein solventer alternder Einheimischer durch einen Transfusionsschlauch an einen jungen Geflüchteten anschließen, der ihn mit frischem Blut versorgt und dafür mit „Goodies“ bedacht wird.

Es wird nicht ganz klar, warum ausgerechnet der aus der Stadt zugezogene Architekt Maximilian an diesem zynischen vampirischen Experiment teilnimmt. Er lässt sich an den attraktiven frankophonen Maurice anschließen, um sein „ungenutztes Restleben“ zu verlängern; fortan firmieren sie als das Doppelwesen MM, das sich – vermutlich durch die synchronisierten Immunsysteme – immer besser versteht. Maximilians Tochter Ruth hingegen setzt sich konkret für Bootsflüchtlinge ein.

Diesen mehr oder weniger ausgeprägten Humanisten stehen korruptionsaffine Gestalten gegenüber wie die in Cum-Ex-Geschäfte verwickelte Bürgermeisterin Susi von der Österreichischen Volkspartei ÖVP, oder eine polyglotte Redenschreiberin, die als „Gummistiefel“ firmiert. Diese desillusionierte heimliche Feministin ist die scharfzüngigste aller Figuren.

Mit "Businesssprechbauchladen"

Ihren „Businessprechbauchladen“ hat sie aufs Äußerste optimiert, was sie aber nicht vor einem schlimmen Ende bewahrt.

Das Geschehen nimmt an Fahrt auf, als im Ort ungeduldig ein ausländischer Charismatiker erwartet wird.

Jener Präsident, der Züge von Wladimir Putin trägt, plant bei seinem Staatsbesuch einen medienwirksamen Abstecher zu den Attraktionen der Provinz. Darauf hat ein Attentäter aus dem Wald nur gewartet, so dass am Ende alles anders kommt - inklusive eines Todesfalls und eines Kniefalls der Bürgermeisterin.

Damit schöpft die österreichische Schriftstellerin direkt aus der Wirklichkeit: Im August 2018 hatte die österreichische Außenministerin Karin Kneissl das russische Staatsoberhaupt Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit eingeladen. Im Festtagsdirndl begrüßte sie den Ehrengast mit einem vollendeten Hofknicks; inzwischen arbeitet die Ex-Politikerin als Kolumnistin für den Staatssender „Russia Today“.

Wieder einmal steigern sich Olga Flors kühne Einfälle zur hochtourigen Gegenwartsdiagnose. Und so liest sich „Morituri“ nicht zuletzt als hellsichtige, böse Parabel auf die gegenwärtigen Zustände unter dem „Buberlkanzler“ Sebastian Kurz, dessen Nimbus derzeit durch eine E-Mail-Affäre zu schwinden droht.

Doch das sprachliche und gedankliche Vergnügen, das Olga Flors steile Texte stets bereiten, weist weit über die Tagespolitik hinaus und lässt diese geradewegs im Moor verblubbern.

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