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Kultur: Das volle Utopieprogramm

Viele junge Deutsche gingen in den 70er Jahren in einen Kibbuz nach Israel zum Arbeiten. Einer ist noch einmal zurückgekehrt – und erkannte fast nichts wieder.

Am Ortseingang steht immer noch die Käsefabrik, wie damals. Dahinter fangen die Rinderkoppeln an. Der Kibbuz liegt über der Fabrik am Hang, mit Blick über die Ebene und auf die Berge. Er sieht heruntergekommen aus. Umgestürzte Schilder, verrostete Landmaschinen. An manchen Häusern blättert der Putz, andere wirken unbewohnt, am Gemeinschaftshaus fehlen ein paar Fensterscheiben. Die Palmen aber sind riesig inzwischen, bestimmt zehn Meter hoch.

Wiedersehen mit Tel Josef. Es ist immer traurig, nach vielen Jahren an einen Ort zurückzukommen und seine Erinnerungen zu begraben. Eigentlich sollte man so etwas nicht tun.

Ein Fremder, der durch ein Dorf von 300 Einwohnern geht, wird überall auf der Welt misstrauisch angestarrt. Hier nicht. Die Leute nicken einem zu und gehen ihres Weges. Man wird zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Fremde sind harmlos. Sogar die Selbstmordanschläge scheinen nichts an dieser Meinung geändert zu haben. In dieser Gegend, nicht weit entfernt vom See Genezareth, war es während der Intifada bisher relativ ruhig. Es gab keine Mordanschläge.

Auch in Tel Aviv sind die Kontrollen vor den Restaurants inzwischen lässig, beinahe eine Formsache. Es wird nicht mehr überall kontrolliert. Israel wirkt, an der Oberfläche, gelassen. Kein Vergleich mit dem deutschen Herbst 1977, mit der hyperventilierenden Stimmung nach der Schleyer-Entführung.

Das Josef-Trumpeldor-Museum ist geöffnet. Josef Trumpeldor, genannt der „einarmige Josef“, Held des russisch-japanischen Krieges, einziger jüdischer Offizier in der Armee des Zaren, Kibbuz-Pionier, gefallen 1920 in Israel im Kampf gegen die Araber, durchsiebt von zahlreichen Kugeln. Seine legendären letzten Worte lauteten: „Das macht nichts.“ Ein halbdunkler Raum voller Bücher und Fotos, darunter auch deutsche Bücher. „Heroische Gestalten des jüdischen Stammes“, Berlin 1937, herausgegeben vom „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Rachel Sass sitzt da, eine Frau von Mitte sechzig, die aufpasst, dass nichts gestohlen wird. Sie erzählt, dass sie im Dorf immer noch Hühner haben, Fischteiche, Rinder, Grapefruit. Die Oliven haben sie aufgegeben. Ich sage: „Ich habe hier mal ein paar Monate gearbeitet.“ Sie sagt: „Ach? Kennen wir uns?“ Ich frage: „Was macht der Sozialismus?“ Rachel Sass: „Der Gemeinschafts-Speisesaal ist geschlossen. Das Kinderhaus ist zu. Der Einheitslohn ist weg. Die jungen Leute gehen zu den Soldaten und kommen hinterher nicht wieder. Socialism is gone.“

Verbundene Hände

Und die Käsefabrik? Die Käsefabrik ist so groß wie Burg Neuschwanstein und glänzt in der Sonne wie eine Erdölraffinerie. Mit dem Käsegeld müsste man den Sozialismus in einem Dorf spielend finanzieren können. „Die Käsefabrik gehört nicht dem Kibbuz. Sie steht auf Land, dass sie uns vor vielen Jahren billig abgeschwatzt haben. Das war ein sehr schlimmer Fehler.“ Die Käsefabrik sieht man dummerweise fast von jeder Stelle des Ortes aus. Damals dachten wir, sie gehört dazu.

Habt ihr noch Freiwillige? Rachel Sass sagte: „Nein. Für die einfachen Handarbeiten haben wir jetzt Maschinen.“

Ich gehe zu den Häusern, wo früher die Freiwilligen wohnten. Kleine Baracken mit winzigen Fenstern. Es gab dort Skorpione, die gern in die Schuhe krochen. Die Häuschen stehen noch, dort schlafen jetzt manchmal Soldaten, wenn sie übers Wochenende ihre Eltern besuchen. Eine Motorradruine steht dort und eine Hollywoodschaukel aus Sperrholz. Der Swimmingpool ist leer.

In den 70er Jahren, nach dem Abitur, vor dem Ersatzdienst, sind ziemlich viele Leute aus unserer Schule mit „Aktion Sühnezeichen“ nach Israel gefahren. „Aktion Sühnezeichen“ beruhte auf der halb ehrenwerten, halb verrückten Idee, dass junge Deutsche im Ausland kostenlos manuelle Arbeiten verrichten und so für die Verbrechen ihrer Väter ein bisschen Buße tun. Wie sollte diese moralische Rechnung wohl funktionieren? Das Ganze fußt auf einem Konzept von Kollektivschuld, die mir heute schräg vorkommt. Man kann aus der Geschichte der Vorfahren Lehren ziehen, und man muss ihre Schulden bezahlen, in einem moralischen Sinn sühnen oder ungeschehen machen kann man gar nichts. Außerdem waren wir für manuelle Arbeit schlecht geeignet und haben aus Ungeschicklichkeit in aller Welt bestimmt eine Menge Schaden angerichtet.

Bei unseren Sühneerwägungen spielte allerdings auch die Tatsache eine Rolle, dass in Israel, falls unsere Informationen stimmten, fast immer die Sonne schien und es Strände gab ohne Ende.

Im Kibbuz Tel Josef musterten sie mich kurz, prüften Talente und Neigungen, dann steckten sie mich in die Hühnerfarm. Drei Monate lang hieß es, in einer neonbeleuchteten Halle panisch um sich pickende Brathähnchen einzufangen und sie mit allmählich anschwellenden Händen in Kisten zu stopfen. Die Hühner pickten in ihrer Todesangst nämlich auf die Hände und die Hühnerscheiße sorgte dafür, dass sich die Wunden zu apokalyptischen Entzündungen auswuchsen. Handschuhe halfen nicht viel. Zur Erholung gab es manchmal Küchendienst. Ich dachte: Diese Hühnerscheiße hier hat mir nur Adolf Hitler eingebrockt. Auf diese Weise wurde ich ein besonders leidenschaftlicher Antifaschist.

Besonders renitenten Hähnchen drehten die Arbeiter schon gleich in der Halle den Hals um. So lernte ich auf meinem Sühnetrip das Töten und abends dann das Schießen. Auf den Wachgängen nahmen die Jungs aus dem Kibbuz nämlich hin und wieder ein paar von uns Helfern mit, und man durfte mal das Gewehr halten und abdrücken. Das gab hinterher immer Ärger, aber Ärger machte den Jungs nichts aus.

Das dritte, was man im Kibbuz lernte, war Sozialismus.

Das Wort Kibbuz bedeutet „Gemeinschaft“. Ein Kibbuz ist ein Dorf, in dem allen alles gemeinsam gehört, in dem jeder das Gleiche verdient, in dem man gemeinsam isst, wo jeder abwechselnd jeden Job macht, wo man die Kinder im Kinderhaus erzieht statt in der Familie und so weiter. Das volle Utopieprogramm.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts floss der Strom der jüdischen Einwanderer in das gelobte Land kräftiger und immer kräftiger. Viele Einwanderer brachten in ihrem geistigen Gepäck den Sozialismus mit. Im Kibbuz verschmolz die Idee des Sozialismus mit der Idee des Zionismus. Die Kibbuzbewegung war, wenn man so will, ein israelisches Gegenstück zur Sowjetunion.

Zionismus bedeutete: das britische Palästina in den jüdischen Staat Israel zu verwandeln. Sozialismus bedeutete: den neuen Menschen zu schaffen, der sich vom Egoismus und von der Ausbeutung befreit hat. Die Siedler bauten Wehrdörfer inmitten einer feindlich gesonnenen Umgebung. Sie dienten gleichzeitig der Grenzsicherung und der Besiedelung entlegener Regionen und der Schaffung des neuen Menschen. Das Gemeinschaftshaus lag immer genau in der Mitte, aus geistigen und aus militärischen Gründen. Es gibt auch eine religiös orientierte Kibbuzorganisation, aber dazu gehören nur wenige Dörfer. Im Kibbuz leben sogar heute noch etwa 120 000 Israelis, etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. In der israelischen Elite ist der Anteil der ehemaligen Kibbuzkinder allerdings deutlich höher.

Konsumträume

Damals gab es zwei Sorten von Sozialismus, die in Westdeutschland bei fast allen ein gutes Image hatten. Einerseits Jugoslawien. Jugoslawien galt als irgendwie demokratisch. Erst viel später hat man herausgefunden, dass Jugoslawien so toll nun auch wieder nicht war. Der andere gute Sozialismus war der Kibbuz. Gut, weil eingebettet in eine Demokratie. Gut, weil funktionierend. Denn die Kibbuzlandwirtschaft war eine Zeit lang erfolgreich, daran ließ sich nicht rütteln.

Man aß in Tel Josef in der großen Speisehalle und konnte sich außerhalb der Zeiten in der Küche jederzeit bedienen. Geld war im Kibbuz verboten. Im Laden zahlten wir mit Märkchen aus Pappe, die wir als Bezahlung kriegten. Manche Sachen gab es völlig umsonst, zum Beispiel Zucker. Jeder bekam fünf Päckchen Zigaretten pro Woche zu einem subventionierten Spottpreis, billiger als in der Stadt. Wer irgendwo hin wollte, ließ sich von einem der Gemeinschaftsautos mitnehmen. Nach der Arbeit, fünf oder sechs Stunden, lag man bis tief in die Nacht am Swimmingpool, spielte Bob Dylan auf der Gitarre und versuchte anzubändeln. Mit zwei verbundenen, geschwollenen Händen war sowohl das eine als auch das andere gar nicht so einfach.

Vor allem die jüngeren Kibbuzleute erzählten gern Witze und feierten oft Feste. So also sah der Sozialismus aus – Sonne, Highlife, fast wie in Kuba, nur mit neuen Autos. Trotzdem hatten wir zu den Kibbuzleuten wenig Kontakt. Wir waren für sie billige Arbeitskräfte, und sie waren für uns ebenfalls ein Mittel zum Zweck. Bei den Festen tranken die Kibbuzleute fast keinen Alkohol. Ein paar von den Freiwilligen, die aus allen möglichen Ländern kamen, ließen sich voll laufen. Vor allem die Engländer. Die Deutschen und die Engländer im Kibbuz mochten einander überhaupt nicht. Die Deutschen waren auf dem Büßertrip, die Engländer dagegen waren gut drauf und hatten es einzig und allein auf Bier und Israelinnen abgesehen.

Man konnte abends auch ins Kaffeehaus gehen. Getränke, Kuchen, Kekse, Zeitungen, das war alles gratis. Wer morgens keine Lust hatte, zu arbeiten, sagte: „Ich bin krank.“ Das war okay. Es wurde nie kontrolliert. Die Engländer waren praktisch immer krank.

War es schön damals? Das ist eine typische Erwachsenenfrage. Wenn man mit zwanzig von zu Hause weggeht, will man es nicht unbedingt schön haben. Es soll anders sein. Und das war es ja auch.

Eines weiß ich noch. Es gab in Tel Josef ein Genie. Eine Art Erfinder. Er hatte ein revolutionäres Haus erfunden. Es funktionierte so: Man blies einen sehr großen Luftballon auf. Dann wurde Beton auf den Luftballon draufgeklatscht. Sobald der Beton fest war, ließ man die Luft aus dem Ballon heraus, eine Art Iglu war entstanden. Die Häuser sahen aus wie die Bunker, die der stalinistische Diktator Enver Hodscha in seinem Cäsarenwahnsinn überall in Albanien hat bauen lassen, aber sie standen da wie eine Eins und waren in der Herstellung sagenhaft billig. Der Erfinder erklärte allen, dass seine Idee früher oder später die ganze Welt erobern wird. Häuser, die jeder Arbeiter sich leisten kann, in China, in Afrika, überall.

Die Wende kam auch in Israel um 1990 herum, zur gleichen Zeit wie in Osteuropa. Die Kibbuzim waren überschuldet. Sie hatten, wie die DDR, über ihre Verhältnisse gelebt. In den 70er Jahren kauften sie jede Menge Autos und Fernseher auf Pump oder bauten um die Wette Swimmingpools, in den 80er Jahren brachen sie dann unter den steigenden Zinsen allmählich zusammen. Viele mussten Land verkaufen, um die Zinsen bezahlen zu können. Dadurch wurde die Landwirtschaft noch unrentabler. Der Zusammenbruch der Sowjetunion spülte eine Welle antikommunistischer Einwanderer ins Land, die über die Kibbuz-Utopisten nur lachen konnten. Vor vielen Jahren war die Idee des Sozialismus aus Russland gekommen, und nun kamen aus der gleichen Gegend ihre größten Verächter.

Ein Kibbuz nach dem anderen führt seitdem ein gestaffeltes Lohnsystem und die Arbeitsteilung ein. Sie steigen von Landwirtschaft auf Kleinindustrie oder Tourismus um, eröffnen Shoppingcenter, beschäftigen bezahlte Manager und ausländische Gastarbeiter, streichen Sozialleistungen, schließen die Kinderhäuser. Statt der Generalversammlung aller Mitglieder gibt es ein gewähltes Dorfparlament. Etliche Kibbuzmitglieder suchen sich gut bezahlte Jobs in der Stadt. Die Jugend haut ab.

In Tel Josef bieten sie den jungen Leuten das Bauland fast gratis an. Es nützt nicht viel. Die Jungen leben lieber teuer in Tel Aviv als billig in Tel Josef. Sie leben lieber in einer Weltstadt mit vielen Terroranschlägen als in einem relativ sicheren Dorf mit Kühen.

Nur in ein paar Kibbuzdörfern gilt immer noch das Prinzip: gleicher Lohn für alle. Ein Gedi am Toten Meer gehört dazu, zu den Letzten. Weil sie in Ein Gedi viel Geld haben. Schon vor Jahren haben sie ganz auf Tourismus gesetzt und ein Guesthouse gebaut, das gut läuft. Der Kibbuz betreibt ein eigenes Thermalbad und surft auf der Wellness-Modewelle. Aber sogar in Ein Gedi schaffen sie jetzt den Einheitslohn ab und verwandeln den Kibbuz in eine Kapitalgesellschaft.

Auch das letzte sozialistische Modell geht unwiderruflich den Bach ’runter. Es verschwindet leise und unauffällig. Ob dieses Ende die Beteiligten traumatisiert, so, wie es bei vielen in Osteuropa gewesen ist? Wahrscheinlich nicht. Israel hat so viele andere Probleme - da fällt das Ende der Kibbuzbewegung kaum auf.

Eine gewisse Trauer ist natürlich da.

Auf dem Weg zur Bürgermeisterin sehe ich die Häuser des Erfinders. Sie stehen noch. Er selber muss tot sein inzwischen, er war ein älterer Herr damals. Hinter den Iglus beginnt der schönere Teil von Tel Josef. Ein Tennisplatz, ein schöner Spielplatz mit Kinder-Riesenrad, das Basketballfeld mit Flutlicht, das Open-Air-Kino, einige Häuser, die nach bescheidenem Wohlstand aussehen.

Die Bürgermeisterin erinnert äußerlich an Heide Simonis. Kurzes Haar, modische Brille, Ohrringe. Aya Schaffrat hört klassische Musik aus dem Kofferradio, an der Wand hängen Drucke von Monet und Kandinsky, auf dem Boden stapeln sich Kartons. Es ist ein sehr kleines Büro. Bürgermeisterin ist nur ein Teilzeitjob. Am kommenden Sonntag feiert der Kibbuz 82-jähriges Bestehen. Die Bürgermeisterin ist erst vor ein paar Jahren hergezogen.

Lenin und die Käsefabrik

„Auch Strom war damals gratis. Die Leute haben den ganzen Tag das Licht brennen lassen. Als wir anfingen, Geld für den Strom zu nehmen, sank der Verbrauch innerhalb eines Monats um 50 Prozent.“ Aya Schaffrat sagt Guido-Westerwelle-Sätze: „Wenn man den Leuten alles Geld wegnimmt, hat keiner mehr Lust, Karriere zu machen.“ Aber sie sieht nicht glücklich aus dabei. Bei ihr klingt es, als ob sie sagt: „Leider müssen wir alle irgendwann sterben.“ Sie ist eigentlich eine Linke. Sie schimpft auf die rechte Regierung. Ich frage sie: „Wann hat der Sozialismus gegen den Kapitalismus verloren, was war der entscheidende Moment?“ Die Bürgermeisterin antwortet, ohne eine Sekunde zu zögern, so, als ob sie sich diese Frage täglich stellt: „Als Stalin Nachfolger von Lenin wurde.“ Später sagt sie noch: „Wir haben das Land für die Käsefabrik zu billig verkauft. Das war der größte Fehler.“

Eines Tages wird man vielleicht ein neues Tel Josef bauen. Ein Dorf für den neuen Menschen. Irgendwo. Dann wird man es mit der Käsefabrik richtig machen. Vielleicht lag es wirklich nur an dieser einen Sache. Andererseits: das Thermalbad hat in Ein Gedi den Einheitslohn auch nicht retten können.

„Und die Häuser des Erfinders? Die stehen noch. Wie eine Eins. Es scheinen Leute darin zu wohnen. Lässt sich daraus nicht ökonomisch etwas machen?“ Die Bürgermeisterin lacht. „In den Häusern ist es nicht auszuhalten. Die Hitze. Und dann, wo stellt man die Möbel hin? In einem runden Haus? Ich begreife die Leute nicht, die dort wohnen. Verrückte gibt es immer und überall.“ Wir überlegen, wie der Erfinder hieß, aber kommen beide nicht darauf. Es ist einfach zu lange her.

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