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Vor dem Anschlag. Der Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016.

© ZDF/Marcus Winterbauer.

„Das war ein Stich ins Herz“: In der Dokumentation „Der Anschlag“ kommen Angehörige der Terroropfer vom Breitscheidplatz zu Wort

Hätte das Weihnachtsmarkt-Attentat in Berlin verhindert werden können? Regisseurin Astrid Schult schildert das Behördenversagen vor und nach dem 19. Dezember 2016.

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Vor die verwackelten Bilder aus den ersten Minuten nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, hat die Filmemacherin Astrid Schult eine Minute der Erinnerung gesetzt.

Eine Minute, in der Astrid Passin, Tochter eines der 13 Opfer des islamistischen Attentäters Anis Amri, im Familienalbum blättert. Sie schaut sich Schwarzweiß-Fotos ihres jungen Vaters an, der sie im Kinderwagen herumfährt.

Knisternd blättert sie das Pergamentpapier zwischen den Seiten um, das Kinn in die Hand gestützt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ein hilfloses Abwinken mit den Händen und die Filmcrew versteht, dass sie nicht weiterreden kann.

Sie verlor ihren Vater. Astrid Passin hat als Angehörige der Opfer vom Breitscheidplatz eine Organisation zur Unterstützung von Terroropfern gegründet.

© ZDF/Marcus Winterbauer.

Sie ist eine der wichtigsten Protagonistinnen in Astrid Schults beindruckender Dokumentarserie „Der Anschlag“. Wie viele andere Angehörige der Opfer weiß sie lange nicht, was mit ihrem Vater passiert ist. Er und ihre Mutter sind an dem Abend nur auf den Weihnachtsmarkt gegangen, weil sie keine Theaterkarten mehr bekamen. Sie erinnert sich genau an den Moment, als durch einen Anruf zur Gewissheit wird, dass der Vater tot ist: „Das war ein Stich ins Herz.“

Der 19. Dezember 2016. Einer dieser Tage, an dem die Menschen in Berlin bis heute wissen, wo sie waren, was sie gemacht haben, als die Nachricht vom Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz publik wird.

Die Bilder der zerstörten Holzbuden und Lichterketten gehen genauso um die Welt wie die des Lastwagens, den der Tunesier Anis Amri in die Budengasse an der Budapester Straße gelenkt hat. Zuvor hatte er den polnischen Lkw-Fahrer Lukasz Urban ermordet, um an dessen Truck zu kommen. Er ist das Sinnbild terroristischer Gewalt, die nicht vor harmlosen Weihnachtsfreuden haltmacht.

Die rekonstruierte Tatwaffe. Attentäter Anis Amri ermordet den Lkw-Fahrer Lukasz Urban und fährt mit dem Laster zum Breitscheidplatz.

© ZDF/Marcus Winterbauer.

Diese Nachrichtenbilder aus dem Film „Der Anschlag“ wiederzusehen, macht beklommen. Zumal in der Kapelle der Gedächtniskirche, nur einige Meter vom Mahnmal für die 13 Anschlagsopfer entfernt, wo der Film seine öffentliche Premiere hat. Auch, weil Angehörige der Toten dabei sind, die in der Dokumentation mit ihrem Schmerz und ihren teils bis heute nicht beantworteten Fragen im Mittelpunkt stehen.

Petr Cizmar hat seine Frau bei dem Anschlag verloren

Eine von ihnen ist Astrid Passin, die zu Beginn der ersten Folge in dem Fotoalbum blättert. Sie hat mit Aktivität auf die Schock- und Trauerstarre reagiert, in die sie der Verlust ihres Vaters gestürzt hat. Ihr Verein „Victims of Terrorism Germany“ kümmert sich um die Vernetzung und Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen.

Wenn wir schweigen, erfährt niemand, wie so ein Anschlag das Leben verändert.

Petr Cizmar, der seine Frau durch den Anschlag verlor.

Auch Petr Cizmar, der seine Frau durch den Anschlag verlor, hat sich entschieden, vor der Kamera von der Missachtung der Behörden zu erzählen, die ihm entgegenschlug. „Wenn wir schweigen, erfährt niemand, wie so ein Anschlag das Leben verändert“, sagt er.

Trauert um Tochter Fabrizia. Die Italienerin Giovanna di Lorenzo begreift nicht, warum sie in Deutschland nach dem Tod der 31-Jährigen so wenig Hilfe und Mitgefühl erfuhr.

© ZDF/Marcus Winterbauer.

Regisseurin Schult recherchiert seit 2017 zu dem Attentat und hat dafür unter anderem den Untersuchungsausschuss des Bundestages besucht. Dieser sollte das Ermittlungschaos rund um den Anschlag aufarbeiten. Schult nennt Scham als Motivation dafür, den Angehörigen in ihrem Film eine Stimme zu geben.

Scham über das Verhalten deutscher Behörden und Politiker, die den Trauernden ohne Empathie begegneten. „Ich fand es komisch, dass die Angehörigen der Terroropfer in Deutschland so wenig sichtbar waren“, sagt sie. Das sei in Ländern wie Italien und Frankreich völlig anders.

Ich fand es komisch, dass die Angehörigen der Terroropfer in Deutschland so wenig sichtbar waren.

Astrid Schult, Filmemacherin

Das wird auch im Film deutlich. In dem die Beerdigung von Fabrizia di Lorenzo zu sehen ist, die in ihrer Heimat Italien von großer öffentlicher Anteilnahme begleitet wird. Fabrizia ist 31 Jahre alt, als sie auf dem Breitscheidplatz tödlich verletzt wird. „Ein wunderbares, offenes Mädchen“, wie ihre Mutter Giovanna di Lorenzo erzählt. Ihr steht auch neun Jahre nach deren Tod der Verlust ins Gesicht geschrieben.

Dokumentation besteht aus fünf Kapiteln

Trotz dieser bewegenden Interviews ist „Der Anschlag“ alles andere als ein Film reiner Betroffenheit. Dazu ist das Geschehen vor, während und nach der Tat zu dicht rekonstruiert, sind die Hintergründe von Anis Amris islamistischem Netzwerk zu gut dargelegt.

Die zweite Ebene, der in fünf Kapitel „Vorzeichen“, „Tat“, „Trauma“, „Staat“ und „Konsequenzen“ unterteilten Geschichte besteht aus Interviews mit Ermittlern, Investigativ-Journalisten, Terrorismus-Experten, einem Mitglied im Untersuchungsausschuss, einem Opferanwalt und einem Traumatherapeuten.

Dicht rekonstruiertes Geschehen

Schult nutzt Nachrichten-Material von damals und Stadtansichten von heute für ihr Gewebe aus Bildern und Stimmen. Dass bis zum Moment der Tat – unterlegt mit dramatischer Musik – immer wieder der schwarze Lkw durch die Gegend fährt, übertreibt die True-Crime-Atmosphäre. Das Fahrzeug, das später zur Anschlagswaffe wird, schafft aber ein Bedrohungsszenario, das im krassen Gegensatz zur friedlichen Weihnachtsmarktszenerie vor dem Anschlag steht.

Die Ungeheuerlichkeit terroristischer Gewalt, die vor dem Anschlag in Berlin 2016 schon die Konzertbesucher im Pariser Bataclan und U-Bahn-Passanten in Brüssel traf, schwingt in diesem Kontrast mit. Und erzählt so auch von den vielen weiteren Angriffen auf friedliche Alltagsorte.

Was das Versagen von Behörden und Nachrichtendiensten angeht, in deren Fokus Anis Amri lange vor der Tat als einer von 450 Gefährdern in Deutschland stand, hinterlässt der Film ein beunruhigendes Gefühl. Vor allem mit Blick auf zukünftige islamistische Attentate. Das Interview mit BKA-Vizepräsident Sven Kurenbach, der die Einzeltäter-Hypothese seiner Ermittler verteidigt, verstärkt das Unwohlsein noch.

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