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Der Vatikan, erstmals dabei, präsentiert mehrere Kapellen (hier von Francesco Cellini).

© AFP/F. Monteforte

Die 16. Architektur-Biennale von Venedig: Befreit die Räume!

Poetik der Leere: Die 16. Architekturbiennale Venedig steht unter dem Motto „Freespace“. Und im Deutschen Pavillon wird die Berliner Mauer ein zweites Mal eingerissen.

Wörtliche Übersetzungen sind meist unbefriedigend. Der deutsche „Freiraum“ allerdings kommt dem englischen „freespace“ sehr nahe, das die irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara zum Motto der von ihnen verantworteten 16. Architekturbiennale Venedig gemacht haben. Das unter dem Büronamen Grafton tätige Duo hat gleich ein ganzes Manifest verfasst. Damit will es den für die Themenausstellung im Zentralpavillon sowie in der 317 Meter langen Corderie (der ehemaligen Seilerei) ausgewählten Projekten einen Rahmen geben und möglichst auch die nationalen Beiträge anspornen. An diesem Samstag wird die Biennale feierlich eröffnet.

„Freespace“ – so verkündet das Manifest – „beschreibt die Freigebigkeit des Geistes und den Sinn für Menschlichkeit als Grundlage der Architektur.“ Das ist recht wolkig, doch auch der deutsche „Freiraum“ bezeichnet nicht nur eine physisch leeres Volumen, sondern zugleich den geistigen Freiraum, den sich der Mensch zu schaffen vermag. Architektur allerdings ist zwar eine geistige Disziplin, doch mit handfesten Ergebnissen, Bauwerken zumeist, die zumindest dies eine gemeinsam haben: Sie besetzen, was zuvor Freiraum war. Und sie bereiten dem Nutzer im günstigen Falle neuen, anderen, gestalteten Freiraum. Im Idealfall solchen, den der Nutzer als geistigen, ja seelischen Freiraum zu nutzen vermag. Ein Geschenk.

Yvonne Farrell und Shelley McNamara treten bei der Eröffnungspressekonferenz, der im dicht gefüllten Saal nur ein Bruchteil der 3256 akkreditierten Journalisten beiwohnen können, jedoch mitnichten als Glücks-Gurus auf. Jahrgang1951 und 1952, haben sie sich in einer männerdominierten Welt durchgesetzt. Und wenn sie beim allerersten Rundgang durch die von ihnen aus aller Welt zusammengesuchten Projekte auf etwas hinweisen, tun sie das in knappen Worten und mit dunklem Timbre. Aber sie haben sich einen Sinn für Mehr bewahrt, für die Poetik des Bauens und überhaupt des Menschseins, auf jeden Fall aber den Mut „zu neuen Wegen des Denkens“, den ihr Manifest einfordert.

Vom Bambusrohr bis zum polierten Marmor

Das lässt sich gewiss nicht an jedem der 71 ausgewählten Projekte bestätigen. Allerdings liegt über dem endlosen Backstein-Schlauch der Corderie ein Hauch von Aura. Es gibt kleine und große Projekte, gebaute und nur geplante, gesellschaftsdienliche und privatistische Vorhaben. Wenn man aufs Material schaut, findet sich erst recht alles Mögliche, vom Bambusrohr bis zum polierten Marmor, vom Selbstgebastelten bis zum Hochprofessionellen. Ein paar bekannte Namen sind dabei. Aus Berlin Sauerbruch Hutton, die im nahen Mestre, diesem hässlichen Entlein vor Venedig, gerade ein Museum als ganzes Stadtquartier bauen konnten, mit öffentlichem Freiraum zur Begegnung. Aus Spanien Altmeister Rafael Moneo, der nur ein Großfoto seines Ergänzungsbauwerks zum Rathaus von Murcia zeigt, das einen hinreißenden Stadtraum erahnen lässt. Aus der Schweiz Valerio Olgiati, der in seiner Heimat mit kompromisslosen Kisten gegen jede Alpentümelei angeht und in die Corderie einfach einen Wald aus weißen Rundpfeilern gestellt hat.

Dann sind da die weniger Bekannten: Flores & Prats aus Barcelona, die ein vergammeltes Industriegebäude für lächerliche drei Millionen Euro zu einem wundersamen Theaterbau herrichten, als wär’s ein Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann. Bearth & Deplazes aus der Schweiz, die eine kleine Holzhütte gezimmert haben nach Art der berühmten Badekabine von Le Corbusier. Dazu die mittlerweile unverzichtbaren Kooperativen aus Indien oder Thailand, die mit billigen Arbeitskräften und ebenso billigen Materialien Schulgebäude für arme Landstriche bauen wie weiland Francis Kéré im heimischen Afrika. Nun ist Kéré selbst dabei, mit seinem Mitmachprojekt aus der Tempelhofer Flüchtlingsunterkunft.

Und da ist die Italienerin Laura Peretti, die den nahezu unbeherrschbaren, einen Kilometer langen Wohnriegel Corviale an der Peripherie von Rom durch minimale Eingriffe zu einem lebenswerten Ort für seine 7000 Bewohner machen will. Beim Rundgang durch den eher architekturhistorisch ausgerichteten Zentralpavillon vermisst ein Kollege lautstark die „soziale Komponente“. Fürwahr, für die Wohnungsnöte Berlins bietet Venedig keine Rezepte, anders als vor zwei Jahren.

Diesmal geht es vor allem um Architektur, frei von sozialen, ökonomischen, politischen Erwägungen. Einmal abgesehen davon, dass jede Wiedergewinnung verfallender Bausubstanz, zumal im ländlichen Raum, auch ein politisches Statement darstellt. Es geht auch nicht um Ästhetik, sondern einfach um das menschliche Maß. Bezeichnenderweise hat das Kuratorinnen-Duo dafür gesorgt, dass die Architekten nach Möglichkeit Sitzgelegenheiten gestaltet haben, Bänke, Sessel oder auch eine geflochtene Bettstatt.

Japan setzt auf Handzeichnungen

Wie halten nun die nationalen Pavillons mit dieser Entschleunigung mit? 63 Länder drängten auf Teilnahme, mehr denn je; sogar der Vatikan ist erstmals dabei, freilich nobel abgelegen auf der Klosterinsel San Giorgio Maggiore. In den Giardini, dem Gartengelände im Osten Venedigs, finden nur die Alteingesessenen mit eigenen Pavillons Platz. Zu den beati possidentes zählt Großbritannien. Und zeigt sich radikal: Der ehrwürdige Pavillon ist vollkommen leer. Stattdessen wir das Bauwerk von einem Gerüst überdeckt, darauf eine Dachterrasse, auf der Tee gereicht wird. Japan beschränkt sich auf die Feinheit der Zeichnung und des Entwurfs, ganz im Sinne der Kuratorinnen, die den Wert der Handzeichnung gegen allen Computer-Schick betonen. Tschechien beklagt das Verschwinden des Freiraums historischer Städte durch überbordenden Tourismus und wählt dafür das ironische Motto „Unes-Co“.

Etliche Länder müssen sich in den historischen Bauten des Arsenals einrichten. So Italien, das Gastgeberland; es erinnert sich der Biennale als Leistungsschau und zeigt, geordnet nach acht regionalen Rundwegen oder -fahrten, Dutzende neuer Bauten und Interventionen abseits der Großstädte von beachtlichem architektonischen Gewicht. Die Volksrepublik China, die das Thema Urbanisierung und Massenwohnungsbau seit jeher scheut, geht nunmehr an die Revitalisierung des Dorfes; Saudi-Arabien stellt sich verhalten kritisch zum ausufernden Wachstum seiner Städte, die Arabischen Emirate kramen unter dem Titel „Lebensräume jenseits von Größe“ Alltagspraktiken abseits der Autobahnen hervor. In diesen Fällen dient die Biennale nicht nur als Schaufenster nach draußen, sondern wohl auch als Vorstoß nach innen, wie es vor Jahren Bahrein vorgemacht hat und dafür mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde.

Auf Rückwirkung ins eigene Land bedacht ist zweifellos auch der US-amerikanische Beitrag in den Giardini. Er befasst sich mit den „Dimensionen des Staatsbürgerrechts“, auch über nationale Grenzen hinaus, mit einem Weltbürgerrecht, wenn man so will. Von größter Ernsthaftigkeit ist schließlich der israelische Pavillon, der die verbissenen interreligiösen Konflikte anhand der drei umkämpften Stätten der Jerusalemer Grabeskirche, der Patriarchengräber in Hebron und des Tempelbergs in Jerusalem aufzeigt. Dabei wird dargelegt, wie sich durch die Besonderheiten der jeweiligen Bauten ein labiles und doch funktionierendes Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Glaubensgemeinschaften einstellt.

Bleibt der deutsche Pavillon. Er ist unter dem Motto „Unbuilding Walls“, „Mauern abbauen“, dem Verschwinden der Berliner Mauer gewidmet und zugleich den fortbestehenden, befestigten Grenzziehungen in aller Welt, von USA/Mexiko bis Jerusalem (siehe Artikel rechts). Dass Berlin bei der Biennale zu kurz kommen könnte, steht im Übrigen nicht zu befürchten. Im Zentralpavillon, dessen verschachtelte Räume so manche Verwirrung stiften, leuchtet einem unvermittelt die Riesenvergrößerung einer Zeichnung von Karl Friedrich Schinkel entgegen: der berühmte Blick aus „seinem“ Alten Museum hinaus auf den Lustgarten. Das Motiv lässt sich als Inbegriff des „Freiraums“ lesen, hier, wo der preußische König auf Drängen der Reformer um die Brüder Humboldt eine „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ anlegen ließ. Es sei eine Besonderheit von Architektur, hatten die Kuratorinnen erklärt, dass Historisches und Neues gleichberechtigt aufeinandertreffen. Schinkel ist so aktuell wie nur irgendein Teilnehmer von heute.

Venedig, Giardini und Arsenale, bis 25. November. Zweibändiger Katalog, ital. oder engl., 80 €. Zahlreiche Begleitveranstaltungen. Infos: www.labiennale.org

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