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Kiez aus Karton. „Kreuzberg Merkezi“, die Gegend am Kottbusser Platz als großer Papierschnitt.

© Roman März

Die Zeichnerin und Collagistin Marion Eichmann: Reizüberflutung ist ihre Strategie

Die Künstlerin Marion Eichmann malt mit der Schere. Zwei Ausstellungen in Berlin und Waiblingen breiten ihr Werk aus.

Ein Blumenstrauß mit explosiver Kraft. Die Vase zerspringt am schwarz konturierten Muster, der Raum zerfällt in seine Bestandteile, der Tisch steht gefährlich schief. Von wegen Stillleben. In dem Scherenschnitt von Marion Eichmann bersten und flirren die Dinge, dass es nur so kracht. Also visuell. Mit ihrer virtuosen Technik entstaubt die 1974 geborene Künstlerin das traditionsreiche Sujet vom Betulichen.

In „Blumen Januar II“ (19 000 Euro) vergeht nichts in stiller Würde. Kein herabsinkendes Blütenblatt, kein Apfel, kein Insekt. Blätter winden und kringeln sich aus separaten Linien, erheben sich zum Relief, die Stängel ragen heraus. Dazwischen dröhnende Farbflächen und ein Stakkato aus Lineaturen, deren Dynamik ein zeitgenössisches Memento mori anstimmt. Temporeich, locker, heiter fast.

Die Papierarbeiten sieht sie als Bilder

Eine urbane Leichtigkeit, wie sie auch Eichmanns Stadtbilder prägen. Genau genommen handelt es sich um Papierarbeiten der Gattung Zeichnung. Eichmann sieht ihre cuts dennoch als Bilder – tatsächlich hat sie eigene Techniken und einen Duktus entwickelt, die dem Medium malerische Qualitäten verleihen. Den Pinsel tauscht sie gegen die Schere und transformiert die Malerei von der klassischen Moderne bis zur Pop Art geschickt in den plastischen Papier-Cut.

Matisse und Mondrian grüßen, die Flächigkeit eines Tom Wesselmann und immer wieder poppige Primärfarben. Wenn es wie jetzt in der Galerie Tammen nicht nur im monumentalen „Twizzler“ (28 000 Euro) über und über wimmelt und in den Augen der Betrachterin flackert, sagt Marion Eichmann: „Das ist das Blinken, die Werbung am Times Square. Ein ganz reales Bild. Ich erfinde nichts hinzu.“

Die Künstlerin als Alltagsbeobachterin, Reizüberflutung als Strategie. Das beherrscht Eichmann vor allem im Überdimensionalen. Groß gedacht hat die zierliche Frau schon bei ihrem Diplom an der Kunsthochschule Weißensee. Mietete 2003 ein Ladenlokal in der Auguststraße, kleidete den gesamten Raum und sich selbst mit einer spektakulären Strickarbeit ein.

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Anfragen aus der Designwelt folgten und mit einem DAAD-Stipendium ging Eichmann nach Tokyo zu Issey Myake. Nach kurzer Zeit in dessen Atelier stellte sie fest, dass ihr die freie künstlerische Arbeit mehr liegt und flanierte in ihrer freien Zeit durch die japanische Metropole. Zeichnend und beobachtend, wie später in New York oder Istanbul.

Wenngleich Eichmanns Arbeiten bisweilen arg verspielt wirken – dahinter steckt ein ausgefeiltes System. Und es geht auch ruhiger. „NY iPod (18 000 Euro) zoomt eine typische Wolkenkratzerschlucht heran. Das weiße Papier und der schwarze Pigmentliner suggerieren Zeichnung pur. Doch aus der Nähe betrachtet, ragen überall Konturen aus dem Bild. Jeder Ziegelstein ein Schnitt und rund um das Plakat filigraner Alltag: Wäsche hängt zum Trocknen aus dem Fenster, und winzige Lampen baumeln von Zimmerdecken.

Strukturiert und akribisch

Wie strukturiert und akribisch die Künstlerin vorgeht, ist parallel in einer Werkschau im privaten Museum Stihl Waiblingen zu sehen. Auf 500 Quadratmetern sind in dem preisgekrönten Gebäude, das die Stiftung Eva Mayr Stihl am Rande der Altstadt erbauen ließ, raumgreifende Installationen und großformatige Bilder zu sehen, aber auch Zeichnungen und Skizzenbücher, die das Prinzip Eichmann nachvollziehbar machen.

Schon die Vorzeichnungen verbinden den raschen, skizzenhaften Strich mit genauer Beobachtung und technischer Präzision. In weiteren Stufen werden sie mit Pigmenttusche ausgearbeitet, um schließlich im mit der Schere gemalten Bild zu münden oder in der Installation „Laundromat“ – nach einem realen Berliner Waschsalon.

Eichmanns strukturierte Systematik zieht sich auch durch das Ausstellungskonzept. In Waiblingen steht man nach der Ankunft in der frei schwebenden Betonhalle vor einer Flughafen-Tafel: „Abflug/Departure“. Verheißung in Pandemie-Zeiten und zugleich Leitsystem durch die Ausstellung „Follow M.E.“. Das Boarding für Tokyo, New York und Istanbul erfolgt planmäßig, Berlin leicht verspätet.

[Galerie Tammen, Hedemannstr. 14, bis 29. August; Di–Sa 12–18 Uhr / Galerie Stihl Waiblingen, bis 18. Oktober]

Folgen wir der Künstlerin. Von Tokyo, dessen Urbanität sich auf 25 Quadratmetern in der bodennahen Installation „Tokyo mono“ (2004) spiegelt, über den Big Apple, wo die Werbung am „Times Square“ gestressten Karrieristen Heil verspricht, bis in das Getümmel von Istanbul und nach Berlin, wo der Platz am Kottbusser Tor (42 000 Euro) so fröhlich farbig und geordnet daherkommt, dass er selbst Berlinern fremd erscheint.

Lärm, Dichte und das simultane Allover mögen sich in den Städten ähneln – doch lässt Eichmann immer auch den Rhythmus und die Eigenheiten des jeweiligen Ortes mitschwingen. Es ist die Stimmung, das jeweils spezifische Lebensgefühl, das die Künstlerin – wenn sie mit Stift und Skizzenblock an Straßenkreuzungen steht oder aus dem Apartment im 11. Stock blickt – aufzusaugen scheint und in ihrer dreidimensionalen Malerei konzentriert.

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