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„Back To The Future! Safe European Home“ lautet der Titel von Damian Le Bas’ Gemälde. Der britische Künstler übermalte 2013 eine Europakarte aus dem Jahr 1938.

© Galerie Kai Dikhas

Digitale Datenbank „RomArchive“: Sinti und Roma erzählen jetzt ihre eigene Geschichte

Start für das „RomArchive“: Die digitale Datenbank für die Kulturen der Sinti und Roma feiert den Onlinegang mit einem Festival.

Wie ein Schutzheiliger wacht der Gypsy-Warrior von Kálmán Várady am Ausstellungsbeginn in der Akademie der Künste. Der Krieger ist mit Flinte und Speeren bewaffnet, mit Perlenketten und Zinnfläschchen behängt. Zu seinen Füßen steht ein Fliegenpilz. Die Figur changiert zwischen Klischee und Selbststilisierung. „Hier um zu bleiben. Haltepunkte“ heißt die Ausstellung am Pariser Platz (bis 3. 2.). Sie ist Teil des Performing RomArchive Festivals, das die Übergabe des virtuellen Archivs für die Kulturen der Sinti und Roma mit einem Symposium, Konzerten und Tanz feiert. Zur Eröffnung am Vorabend würdigte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier die eigenständige Kultur der Sinti und Roma in einer Rede. Die Kulturstiftung des Bundes gab insgesamt 3,7 Millionen Euro für den Aufbau des Archivs.

„Halteplätze wurden nicht zufällig genutzt. Es waren Orte, an die wir immer wieder zurückkehrten. Es geht also darum, dass wir eine Bindung zu bestimmten Orten haben“, sagt Delaine Le Bas. Gemeinsam mit dem Regisseur und Bühnenbildner Moritz Pankok hat die britische Künstlerin eine lichte, klare Präsentation geschaffen, die sich dem gleichen Thema wie das digitale Archiv widmet: der Aneignung der eigenen Geschichte.

„Unsere Identität ist nicht statisch, sondern hat sich unter den nationalen Einflüssen entwickelt. Wir wollen erreichen, dass zwischen kultureller Identität und nationaler Identität kein Gegensatz besteht“, formuliert Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma das Ziel. Die „Haltepunkte“ fordern die Besucher also auf, zunächst innezuhalten. Eine ganze Wand ist den Zeichnungen von Ceija Stojka gewidmet, die ihre Kindheitserinnerungen an das Leben im Konzentrationslager festhielt. „Die Menschen sollen erkennen, was passiert, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten“, sagt Delaine Le Bas. „Da findet im Moment ein kollektives Verdrängen statt.“ Seit der Entscheidung für den Brexit sieht sie den Rassismus in Großbritannien wachsen.

Wie ein virtuelles Museum

Die Idee für das RomArchive entstand 2012 nach der Eröffnung des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Die beiden Initiatorinnen Franziska Sauerbrey und Isabel Raabe organisierten damals das Rahmenprogramm für den Festakt, waren berührt von der Vielfalt der Roma-Kulturen und erstaunt, wie wenig öffentlich bekannt diese waren. Unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes recherchierten die beiden Kulturmanagerinnen zwei Jahre lang in ganz Europa und fragten in den unterschiedlichen Communitys nach, was benötigt wird. Die Antwort lautete einhellig: „Wir brauchen einen Ort, an dem unsere Kulturen sichtbar werden.“

Das RomArchive funktioniert wie ein Museum – nur virtuell. 14 Kuratoren betreuen die Abteilungen Kunst, Tanz, Musik, Literatur, Theater, Film und Menschenrechte. Unter dem Dach des Archivs soll größtmögliche Vielfalt herrschen. Denn über die Ländergrenzen hinweg haben die rund zwölf Millionen Sinti und Roma unterschiedliche Kulturen entwickelt und diverse Einflüsse aufgegriffen. Zugleich mussten sich die Beteiligten des Archivs auf gemeinsame Standards einigen. 14 Beiratsmitglieder aus zehn verschiedenen Ländern verständigten sich dafür auf eine gemeinsame Sammlungspolitik und ethische Grundsätze.

Dazu gehörte als Erstes die Festlegung auf die korrekte Bezeichnung – Roma im Englischen, Sinti und Roma im Deutschen. Die dritte Sprache der Website ist Romanes, das in unterschiedlichen Dialekten gesprochen wird. Die indische Sprache entwickelte sich vor 1000 Jahren und steht heute im Unesco-Weltatlas der bedrohten Sprachen. Um die Diversität zu erhalten, verwendet die Website verschiedene Dialekte.

Das RomArchive versucht Stereotypen durch die eigene Wahrnehmung der Sinti und Roma zu überschreiben. Die historischen und zeitgenössischen Ton- und Filmaufnahmen, Texte, Fotos, Bilder sollen den fremden Blick durch die Selbstdarstellung ersetzen. Gerade Künstlerinnen spielen geschickt mit den Vorurteilen, die sie zu „Anderen“ abstempeln. In der Sektion Kunst sind die Porträts von Emília Rigová zu sehen. Die Slowakin hat sich eine eigene, neue Identität als schwarzlockige Schönheit mit großen Goldohrringen erschaffen. Dieses folkloristische Alter Ego nennt sie „Bári Raklóri“. Emília Rigovás Aquarelle locken den Betrachter in die Falle seiner eigenen Klischees. In der Filmabteilung ist wiederum ein poetischer Selbstversuch von Galya Stoyanova zu beobachten, die im langen roten Rock mit buntem Fransenkopftuch durch die Straßen von Budapest läuft. Dabei fotografiert sie die auf sie gerichteten feindseligen Blicke der Passanten.

Augenzeugenberichte aus Zeit des Nationalsozialismus

Rund 5000 Objekte stehen im RomArchive bereits online, die multimedialen Möglichkeiten erweisen sich als große Stärke der digitalen Datenbank. Das Kapitel Tanz etwa nimmt den Nutzer mit auf eine Reise von Ungarn über Bulgarien, Russland, Frankreich bis zum Flamenco Gitano nach Spanien. Von Land zu Land war die Motivation, an die Öffentlichkeit zu gehen, unterschiedlich, stellt Isabel Raabe fest. „Die deutschen Sinti schützen ihre Kultur sehr stark. Sie möchten nicht, dass das Sintitikes, ihre Sprache, publik wird. Dagegen wollen die osteuropäischen Roma und die spanischen Gitanos genau all das zeigen und teilen.“

Das eindrucksvollste Kapitel stellt Karola Fings’ Recherche „Voices of the Victims“ dar. Die Historikerin hat Briefe, Kassiber, Notizen gesammelt, die Sinti und Roma im Nationalsozialismus verfassten. Im RomArchive werden die Texte nun von Sinti und Roma gesprochen. Ihre Stimmen in den Audiodateien verleihen den Augenzeugenberichten eine bewegende Präsenz. Da schreibt Margarete Bamberger 1943 aus Auschwitz an ihre Schwester und beendet ihren Brief mit einer Botschaft in Romanes: „Extra Gruß von Baro, Naßlepin, Elenta und Marepin“, das heißt: „Große Krankheit, Elend und Mord“.

Fördermittel für die nächsten fünf Jahre

Am leichtesten ist das virtuelle Museum zu nutzen, wenn man ohne Ziel darin flaniert, der Neugier folgt und sich auf Nebenwege einlässt, die sich bei dem Rundgang eröffnen. Ein Glossar erläutert die Begriffe, das Archiv schließt niemanden aus. Es soll weiterwachsen. Im April wird das Projekt vom European Roma Institute for Arts and Culture übernommen, das in der Berliner Reinhardtstraße ansässig ist. Als Nächstes soll es im Roma-Pavillon auf der Biennale di Venezia präsentiert werden (ab 11. Mai).

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat für die nächsten fünf Jahre Fördermittel zugesagt, um den nun zusammengetragenen Schatz zu hüten und zu mehren. Das Archiv ist ein Schritt, die eigene Identität zurückzugewinnen und die Vorurteile der anderen aus dem Weg zu räumen. Aber Delaine Le Bas bleibt realistisch: „Es gibt noch viel zu tun.“

Festival Performing RomArchive bis 27. 1., Akademie der Künste, Pariser Platz 4, mehr Info: www.romarchive.eu

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