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Big Thief: Adrienne Lenker, Buck Meek und James Krivchenia

© Genesis Baez

„Double Infinity“ von Big Thief: Zärtlichkeit ist eine Waffe

Eine Band wie eine Familie – und plötzlich steigt einer aus. Aus der Trauer darüber formt Big Thief auf ihrem neuen Album berauschende Klanglandschaften. Ein Treffen in Berlin.

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Natürlich hat Adrianne Lenker verschlafen. Wie man das von einer der besten und nonkonformsten Songwriterinnen unserer Tage fast schon erwartet. Mit Sonnenbrille auf der Nase, einem funkelnden Goldzahn im Lächeln und noch halb im Pyjama gehüllt, taucht die Sängerin von Big Thief verspätet im Konferenzraum eines Hotels in Berlin-Friedrichshain auf. Und schweigt erstmal.

Der vollbärtige Schlagzeuger James Krivchenia und der akkurat rasierte Gitarrist Buck Meek sitzen da schon eine Weile herum und plaudern über erste Auftritte in Berlin. 2017 war das. Damals spielten sie noch im Kreuzberger Privatclub vor einigen Dutzend Menschen.

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Fünf Alben später füllen Big Thief längst Hallen, werden hundert millionenfach gestreamt und sind Grammy-nominierte Kritikerlieblinge. So viel sei vorweggenommen: Ihr neues Werk „Double Infinity“ (erscheint am 5. September auf 4AD) wird dieses Image weiter festigen.

Mehr Familie, als bloß Band

In den zehn Jahren ihres Bestehens verkörpern Big Thief den längst vergessenen geglaubten Topos einer Band, die nicht nur zusammen tourt, sondern ein Leben teilt. Auf Bildern sind die Mitglieder oft umschlungen zu sehen. „Nur zehn Prozent unserer gemeinsamen Zeit musizieren wir“, erläutert Meek. „Eigentlich brauchen wir die Band lediglich, um beieinander zu sein.“

Doch auch die innigste Verbundenheit hilft manchmal nicht. Ende 2024 verließ das Gründungsmitglied Max Oleartchik die Band – aus „zwischenmenschlichen Gründen unter gegenseitigem Respekt“. Mehr möchten das verbliebene Trio nicht sagen, außer, dass es sich „schmerzhaft wie eine Scheidung“ angefühlt habe.

Womöglich ist auch die Weltpolitik nicht unschuldig, munkelt man in Fanforen. Der langjährige Bassist wurde in Israel geboren und lebt dort noch heute. Lenker vertrat zuletzt offensiv propalästinensische Positionen.

Nun also das erste Album als Trio. Wie weitermachen? Big Thief schmiedeten ihre Identität als abgeschottetes Indie-Kollektiv bei wochenlangen Sessions in Waldhütten. Also versuchten sie es noch einmal mit dem bewährten Rückzug. Schlagzeuger James Krivchenia plante gar, in einer geodätischen Kuppel in den verschneiten Wäldern Minnesotas aufzunehmen. Aber es fühlte sich falsch an.

Stattdessen luden sie zehn Musiker in das New Yorker Studio „Power Station“ ein, wo bereits Bob Dylan, Bruce Springsteen und Björk Songs für die Ewigkeiten aufnahmen. Man wollte weg vom Lo-Fi-Sound, hin zum hochwertigen Studioklang.

Wir wollten nach der Trennung keine Bitterkeit vertonen, sondern Versöhnung und Aufbruch.

Buck Meek, Gitarrist von Big Thief

Trotzdem sei es eine Heimkehr zu den Ursprüngen gewesen, erzählt Meek. Zurück zu jenen Weggefährten, mit denen sie in Brooklyn noch in Bars auftraten. Mit ihren Fahrrädern radelten sie jeden Morgen über vereiste Straßen, um neun Stunden am Stück zu jammen. Die Gäste steuerten Zitherspiel, Tape-Loops und experimentellen Gesang bei.

Zärtliche Diebesbande: Buck Meek, James Krivchenia und Adrianne Lenker sind Big Thief. 

© Genesis Baez

„Wir wollten keine Bitterkeit vertonen, sondern Versöhnung und Aufbruch. Der Sound sollte Ekstase widerspiegeln“, erklärt Meek. „Dafür bauten wir Ambient-Flächen mit viel Bewegung durch Percussion.“ Die Single „Incomprehensible“, zeichnete die sphärische Landschaft von „Double Infinity“ vor. Über gestapelten Klangteppichen und einem dahintrabenden Schlagzeug reflektiert Lenker über die Zyklen des Lebens. Vom ersten grauen Haar, das die 33-Jährige auf ihrer Schulter fand, spannt sie den Bogen zum Jugendwahn westlicher Gesellschaften.

Und endlich bricht Lenker ihr Schweigen in Berlin. „Unsere Kultur hat ein enges Schönheitsideal geschaffen, das Jugend verherrlicht und Alter abwertet“. Ständig kämpfe der Mensch gegen den natürlichen Fluss der Zeit an. Wahre Schönheit liege aber nicht im makellosen Schein. „Hört auf, euch gegen den Strom der Zeit zu stemmen, und fangt an, den Tod anzunehmen und Veränderung zu umarmen.“

Schmerz in Kreativität verwandeln

Angenommen hat die Band auch mal wieder ein neues Klanggewand. Sicher, es gibt auch auf „Double Infinity“ die klassischen Folk-Elemente wie in „Los Angeles“, wo Lenker über wenigen Akkorden die Transformation einer Liebe in Freundschaft verhandelt. Oder das im mehrstimmigen Harmoniegesang vorgetragene Abschlussstück „How Could I Have Known“. Auch klassische Big-Thief-Hymnen mit Ohrwurmcharakter wie „All Night All Day“ über spirituelle Dimensionen der queeren Sexualität müssen Fans nicht missen.

Doch besonders mitreißend sind die ausufernden, bis zu sieben Minuten langen Stücke, die ihren aus der freien Improvisation geronnenen Charakter bewahrt haben. In „Grandmother“ lässt die musikalische Abenteuerlust Lenkers Stimme über repetitive Muster treiben, begleitet vom flehenden Gesang der New-Age-Koryphäe Laaraji.

„Ich glaube daran, dass Traumata über die DNA weitergegeben werden“, erklärt Lenker den Text. Ihre eigene Kindheit war von Indoktrination in einer Sekte, häufigen Umzügen und einem schweren Unfall geprägt. „Wenn man sich den Schatten stellt, bereitet man die nächste Generation auf etwas Besseres vor“. So könne das Leben zu einem Tanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit werden. Oder um es mit Lenkers Refrain auszudrücken: „Gonna turn it all into rock and roll“. Schmerz in Kreativität verwandeln.

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Das ARD-Format „Titel-Thesen-Temperamente“ hat Big Thief kürzlich als „Stimme der amerikanischen Gegenkultur“ geadelt. Nicht aufgrund ihrer Punk-Attitüde, sondern des zärtlichen Gegenentwurfs. „Die Welt kann einen momentan sehr hart machen“, schließt Lenker das Gespräch. Fürsorge und demonstrative Verletzlichkeit seien die radikalste Antwort darauf.

„Man kann die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Personen als Schlüssel für die Gesundheit der Welt betrachten. Wir hoffen, dass Musik mit dieser Absicht dazu ermutigt, zärtlicher zueinander zu sein.“ Dann winkt der Manager an der Tür. Buck Meek gruppiert die Sitzmöbel der Band für das folgende Gespräch neu. Er möchte, dass sie noch näher beieinandersitzen.

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