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Eklat bei Europas wichtigstem Comic-Festival: Auch deutsche Verlage erwägen Angoulême-Boykott
Undurchsichtige Buchführung, toxisches Management, Verdacht auf Vetternwirtschaft und ein Vergewaltigungsfall: Europas größtes und wichtigstes Comicfestival steckt in einer fundamentalen Krise.
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Das Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême (FIBD) gilt als das wichtigste Event der europäischen Comic-Szene, Hunderttausende Besucher werden hier jährlich gezählt. Nun könnte es im kommenden Jahr nicht oder nur in sehr reduzierter Form stattfinden.
Hintergrund des Eklats um das seit 1974 jährlich in Westfrankreich stattfindende Festival ist eine umstrittene Personalentscheidung, die in der Comicszene in den vergangenen Tagen massive Kritik provoziert hat.
Es geht um das Unternehmen 9ᵉArt+, das in den vergangenen Jahren das Festival ausgerichtet hat. Dessen Leiter Franck Bondoux steht seit Anfang dieses Jahres in der Kritik, nachdem in der französischen Presse eine Vielzahl von Missständen aufgedeckt wurde.

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Eine beispiellose Revolte erschüttert die Welt der Comics.
Die französische Tageszeitung „Le Monde“
Dabei geht es unter anderem um undurchsichtige Buchführung, toxisches Management, Verschlechterung des künstlerischen Angebots und Verdacht auf Vetternwirtschaft, wie in französischen Medien sowie der Comic-Fachpresse zu lesen war. Hinzu kam die Entlassung einer Mitarbeiterin, nachdem diese Anzeige wegen einer Vergewaltigung durch einen Kollegen während des Festivals 2024 erstattet hatte. All dies hatte in den vergangenen Monaten zu wiederholten Protesten und Boykottaufrufen aus der Comicszene geführt.

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Am vergangenen Wochenende wurde nun bekannt, dass die Betreiber des Festivals – ein gemeinnütziger Verein, der sich aus wichtigen Interessengruppen mit Bezug zum Festival zusammensetzt – das Unternehmen 9ᵉArt+ trotz der Vorwürfe gegen seinen Chef als Organisator für die Festivals der kommenden Jahre in Erwägung ziehen.
Französischen Medienberichten unter anderem im Magazin „Entrevue“ zufolge haben die Festivalbetreiber zwei miteinander konkurrierende, in Angoulême ansässige Organisationen aufgefordert, sich gemeinsam um die Ausrichtung des Festivals zu bewerben. Das ist neben dem Unternehmen 9ᵉArt+ die Cité internationale de la bande dessinée et de l’image, eine öffentliche Einrichtung, die von den lokalen Behörden unterstützt wird. Sie sollen bis zum 20. November ein gemeinsames Projekt vorlegen.

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Der im kommenden Jahr auslaufende Vertrag für 9ᵉArt+ könnte demnach theoretisch für weitere neun Jahre verlängert werden. Allerdings scheint es kaum denkbar, dass die beiden infrage kommenden Gruppen tatsächlich zusammen ein Konzept einreichen, da sie sehr unterschiedliche Ideen bezüglich der Zukunft des Festivals haben. „Seitdem erschüttert eine beispiellose Revolte die Welt der Comics“, schreibt die Tageszeitung „Le Monde“.
Massiver Protest gegen 9ᵉArt+ und dessen Geschäftsführer kommt von zwei für das Festival besonders wichtigen Gruppen, die im Comicland Frankreich eine große kulturelle Relevanz haben: den Verlagen sowie den Zeichnerinnen und Zeichnern.
Mehrere namhafte Comic-Verlage drohen jetzt mit dem Boykott des Festivals, dessen nächste Ausgabe vom 29. Januar bis 1. Februar 2026 stattfinden soll. Sie fordern, dass das Unternehmen 9ᵉArt+ von der Ausschreibung für die Organisation der Veranstaltung ausgeschlossen werden soll. Dies teilten sie den lokalen Behörden laut „Le Monde“ am Montag in einer Videokonferenz mit.
Nach Angaben des US-amerikanischen Fachmagazins „ComicsBeat“ haben sich bislang mehr als 40 Verlage von der nächsten Ausgabe des Festivals zurückgezogen: „Das Festival, das über drei Marktplätze in riesigen Pavillons in der ganzen Stadt verfügt, die Mainstream-, Alternative- und Manga-Geschmäcker bedienen, verzeichnet Stornierungen von Ständen auf breiter Front.“
Dies führe dazu, dass der auf alternative Comics spezialisierte Bereich „Nouveau Monde“ Schwierigkeiten habe, seine große Fläche zu füllen. Und der beim Massenpublikum besonders populäre Bereich „Manga City“ mit Manga und ostasiatischen Comics sei unter anderem durch den Rückzug des französischen Manga-Verlags Ki-oon, der dort populäre Serien wie „My Hero Academia“ und „Jujutsu Kaisen“ veröffentlicht, „drastisch geschrumpft“.

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Es gebe zudem Gerüchte, dass eine Reihe von Tochtergesellschaften großer Verlagsgruppen, die Stände auf der Mainstream-Messe „Monde des Bulles“ haben, „bereits Maßnahmen ergriffen haben“. Und auch auf dem internationalen Rechte-Markt, der für ausländische Verlage besonders relevant ist, gebe es bereits Absagen.
Unter den jetzigen Voraussetzungen möchten wir nicht am Festival teilnehmen.
Kai-Steffen Schwarz, Programmleiter Comic, Manga & Webtoons beim Hamburger Carlsen-Verlag
Das Thema beschäftigt auch deutsche Verlage. „Für uns hat das FIBD in Angoulême seit langem eine sehr große Relevanz – als internationales Aushängeschild der Comic-Branche, als wichtiger Ort der Begegnung mit Autor:innen und Zeichner:innen sowie unseren Lizenz- und Geschäftspartnern“, sagt Kai-Steffen Schwarz, Programmleiter Comic, Manga & Webtoons beim Hamburger Carlsen-Verlag, dem Tagesspiegel.

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Angoulême sei in den vergangenen Jahren „ein Festival der Inspirationen und Entdeckungen, mit hochkarätigen Ausstellungen und Events zu Comics aus aller Welt“ gewesen. „Den Protest und die aktuellen Absagen von Künstler:innen und Verlagen für die 2026er-Ausgabe können wir sehr gut nachvollziehen“, sagt Schwarz. „Unter den jetzigen Voraussetzungen möchten wir nicht am Festival teilnehmen. Wir beobachten und warten die Entwicklungen der nächsten Tage ab.“
Sollte es bei der Vorgabe bleiben, dass 9ᵉArt+ ohne weitere Beanstandung die Leitung für die nächsten neun Jahre innehat, werden auch wir nicht nach Angoulême reisen.
Dirk Rehm, Leiter des Reprodukt-Verlags in Berlin
Aus Berlin ist ähnliches zu hören. „Fast alle französischen Künstler:innen, die wir auf Deutsch veröffentlichen, haben ihre Teilnahme abgesagt, weil sie mit der Politik des Festivals und Missständen bei 9ᵉArt+ nicht einverstanden sind“, sagt Dirk Rehm, Gründer und Leiter des Berliner Reprodukt-Verlags, dem Tagesspiegel. „Die Vorwürfe gegenüber dem Leiter des Festivals und 9ᵉArt+ scheinen gerechtfertigt, soweit ich das aus mündlichen Berichten und der französischen Presse nachvollziehen kann, und deren Fehlverhalten sollte natürlich Konsequenzen haben.“

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Nachdem nun auch die großen Verlage Média Participations und Casterman mit einer Absage drohten, gilt Rehm zufolge der 17. November als Stichtag, bis zu dem staatliche Stellen zur aktuellen Situation Stellung beziehen müssen. „Sollte es bei der Vorgabe bleiben, dass 9ᵉArt+ ohne weitere Beanstandung die Leitung für die nächsten neun Jahre innehat, werden auch wir nicht nach Angoulême reisen“, kündigt der Berliner Verleger an.
Ein Boykott treffe deutscher Comicverleger allerdings weniger schmerzhaft als ihre französischen Kolleginnen und Kollegen, sagt Rehm: Angoulême sei zwar neben dem Bologna Children’s Book Fair und der Frankfurter Buchmesse der wichtigste Ort zum Austausch über Lizenzverkauf. „Wir planen allerdings auch in Bologna einen kleinen Stand zu haben, wie schon in diesem Jahr. Und er sei zudem Ende November auch auf dem Salon du Livre de la Jeunesse in Paris vor Ort, um sich mit französischen Verlagen zu treffen. „Insofern ist ein Ausfall von Angoulême für als über die Jahre gut vernetzter deutscher Comicverlag weniger relevant, für die französische Comicszene insgesamt jedoch ist es ein herber Schlag.“
Ein Appell von Art Spiegelman, Jacques Tardi, Posy Simmonds und Julie Doucet
Bekräftigt wurde die Forderung der Verlage nach einem grundlegenden Neuanfang durch einen Appell, den 20 der bekanntesten internationalen Comicschaffenden am Montag in der Zeitung „L’Humanité“ veröffentlicht haben. Sie haben allesamt in den vergangenen Jahren den Großen Preis des Festivals erhalten und fordern in einem offenen Brief „eine schnelle und tiefgreifende Veränderung“ und den Rücktritt des langjährigen Festivalleiters von 9ᵉArt+.

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Während die Aufrufe zum Boykott der Veranstaltung zunehmen, „häufen sich beim Festival Skandale, Kommunikationsfehler und mangelnder Ehrgeiz, und das alles bei völliger Undurchsichtigkeit der Verwaltung“, kritisieren die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner.
Die Liste umfasst neben Anouk Richard, der Gewinnerin des Großen Preises von Angoulême im vergangenen Jahr, und dem amerikanischen „Maus“-Schöpfer Art Spiegelman zahlreiche weit über Frankreich hinaus bekannte Comic-Größen. Unter ihnen Régis Loisel, Charles Berbérian, François Boucq, Chris Ware, Jacques Tardi, François Schuiten, Baru, Blutch, Lewis Trondheim, Riad Sattouf, Hermann Huppen, Posy Simmonds und Julie Doucet.

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„Das Comic-Festival von Angoulême ist in Lebensgefahr“, warnen die Künstlerinnen und Künstler in dem Appell. Es sei höchste Zeit, die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen 9ᵉArt+ zu beenden, „damit das Festival mit neuen Betreibern zu den Werten zurückfinden kann, die seinen internationalen Ruf begründet haben“.
Für die Comicszene sei Angoulême „zu einem unverzichtbaren Treffpunkt für Autoren und Autorinnen, Verleger, Medien und natürlich Leser und Leserinnen geworden“. Ohne eine grundlegende Veränderung bestehe die Gefahr, dass das Festival von 2026 das Letzte seiner Art gewesen sein wird.
Mögliche Kursänderung
In der Nacht zu Donnerstag zeichnete sich dann eine mögliche Kursänderung bezüglich der künftigen Festivalleitung ab. Wie unter anderem die französischsprachige belgische Zeitung „Le Soir“ meldete, soll es beim Festival von Angoulême ein neues Auswahlverfahren für die Organisation geben, „bei dem der derzeitige Beauftragte 9ᵉArt+, der in der Branche stark kritisiert wird, ausgeschlossen wird“.
Die vorige Entscheidung zugunsten 9ᵉArt+ „hat offensichtlich nicht die Zustimmung der Beteiligten der Veranstaltung gefunden“, stellte der Festival-Verband FIBD laut „Le Soir“ in einer in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag veröffentlichten Erklärung fest. Man habe deshalb beschlossen, „die Ergebnisse der Ausschreibung für ungültig zu erklären“ und „bestätigt, dass der aktuelle Vertrag mit 9ᵉArt+, der 2027 ausläuft, nicht verlängert wird“.
Ob das ausreicht, um die Boykottwelle bezüglich der Veranstaltung für 2026 zu stoppen, dürfte sich in den kommenden Tagen zeigen.
In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Vorwürfe gegen die Festivalleitung und ihr Agieren bei sensiblen Themen gegeben. Dazu zählen eine umstrittene und letztlich abgesagte Ausstellung von Szene-Star Bastien Vivès, dem Kritiker die Verharmlosung von Pädophilie und Vergewaltigung vorwarfen, sowie Sexismus-Vorwürfe wegen einer nur aus Männern bestehende Grand-Prix-Liste 2016.
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