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Der amerikanische Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin bei einer Pressekonferenz in Deutschland, etwa 1968. In diesem Jahr wäre Baldwin 100 geworden.

© imago/United Archives/IMAGO/United Archives / kpa

Festival in Berlin feiert James Baldwin: „Er zeigt, was kleine Aktionen bedeuten können“

Der US-Autor und Aktivist James Baldwin wäre in diesem Jahr 100 geworden, was ein Festival am Wochenende feiert. Mit-Kurator Gürsoy Doğtaş über die Aktualität Baldwins und sein Verhältnis zu Deutschland.

Stand:

Gürsoy Doğtaş, das von Ihnen mitkuratierte Festival zu Ehren von James Baldwin trägt den Titel „What would James Baldwin do?“. Was würde er denn machen, wenn er im Sommer 2024 nach Berlin gekommen wäre?
Er ist 1987 gestorben und hat den Mauerfall nicht miterlebt. Vermutlich würde er heute die damalige innerstädtische Grenze zwischen Ost- und West-Berlin ablaufen. Er würde erzählen, dass die DDR die Bürger*innenrechtsbewegung unterstützte, dass Martin Luther King 1964 in der Ost-Berliner Marienkirche gepredigt hat. Wahrscheinlich würde er sich irgendwo in Kreuzberg in ein Café setzen, Tavla spielen und ungläubig fragen, ob das Rauchen im Café wirklich verboten sei.

Wie war sein Verhältnis zu Deutschland?
Im August 1965 unterstützt er die Aufführung seines Dramas „Amen Corner“ in West-Berlin. Es ist überliefert, dass das Publikum ihm an seinem Geburtstag – am 2. August – „Happy Birthday“ singt. Er ist also auch in Deutschland eine gefeierte Person. Im Winter 1968 reist er von London nach Hamburg, um seinen Freund Tony Maynard im Gefängnis zu besuchen und für dessen Freilassung zu kämpfen. Sein deutscher Lektor – Fritz J. Raddatz – hilft ihm dabei.

Im Februar 1973 nimmt er in Stuttgart an einem Kongress teil, den die Stuttgarter Ortsgruppe der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) organisiert. Er durchquert die BRD und nimmt wahr, dass ein Teil der westdeutschen Öffentlichkeit seinen Gedanken und Schriften sehr aufmerksam folgt.

Der Titel des Festivals stellt einen starken Aktualitätsbezug her. Welche von Baldwins Analysen haben Ihnen zuletzt geholfen, die Gegenwart besser zu verstehen?
Er ist ein diskursives Gravitationszentrum mit vielen eindringlichen und nach wie vor aktuellen Analysen. Was ich an ihm bewundere, ist, wie sein Denken, Sprechen und Schreiben in Handeln übergehen. Es gibt die großen Aktionen, aber er scheut auch nicht den Gang zur Einwanderungsbehörde in Frankreich, um einen algerischen Freund vor der Abschiebung zu bewahren.

Es heißt, er hat Mitte der 80er Jahre diesem Freund eine Anstellung als Gärtner bei sich in Saint-Paul-de-Vence in Südfrankreich gegeben, um dessen Aufenthaltsstatus zu sichern. Was ich gerade von ihm lerne, ist die Bedeutung von Aktionen im kleinen Maßstab.

Baldwins zweiter Roman „Giovannis Zimmer“ kam 1955 zuerst in England heraus, weil sein US-Verleger Bedenken aufgrund der Homosexualität der Titelfigur hatte. Wie ist das Buch gealtert, das heute als queerer Klassiker gilt?
Ich war in der elften Klasse, als ich das Buch zum ersten Mal las. Das Melodrama einer unglücklichen Liebe, in dem der italienische Migrant Giovanni in Paris zum Tode verurteilt wird, fand ich sehr ergreifend. Heute schätze ich das Buch als Archiv der queeren Geschichte von Paris in den späten 40er und frühen 50er Jahren. Die Bar, in der die Hauptfigur arbeitet, ist an das berühmte queere Ausgehlokal „Le Fiacre“ angelehnt.

James Baldwin, geboren 1924 in New York, schrieb mit „Giovannis Zimmer“ einen queeren Klassiker.

© IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive/imago

James Baldwin lässt in seinem Roman sogar Jean Genet – ohne ihn namentlich zu erwähnen – auftreten, der dort von seiner Haft berichtet. In dieser Hinsicht ist der Roman nicht nur ein literarischer Klassiker, sondern auch eine Erinnerungsinstitution, die man durch Doppelflügeltüren betritt. Der eine Flügel ist die Widmung „Für Lucien“, gemeint ist Lucien Happersberger, die große Liebe Baldwins. Der andere Flügel ist ein Epigraph von Walt Whitman: „Ich bin der Mann, ich litt, ich war dabei.“ Also am Eingang zum Archiv versichert uns Baldwin, dass er in der Stadt der Liebe der Zeitzeuge (s)einer unglücklichen Liebe ist.

Dass James Baldwin nicht nur in Frankreich gelebt hat, sondern immer wieder auch in Istanbul, ist kaum bekannt. Was führte ihn in die Türkei?
Sein Freund Engin Cezzar. Ein Schauspieler, der Istanbul verlässt, um an der Yale School of Drama zu studieren. In einer Werkstattaufführung von „Giovannis Zimmer“ in New York spielt er die Rolle des Giovanni. Cezzar lädt ihn immer wieder nach Istanbul ein.

Im Herbst 1961 folgt Baldwin dann der Einladung und wie könnte es anders sein, ihm gefällt die Stadt sehr. Seine Schreibblockaden lösen sich dort. Er beendet in Istanbul seinen dritten Roman „Another Country“ und kehrt immer dorthin zurück. Er hat auch sein Regiedebüt im kleinen Theater von Engin Cezzar und seiner Partnerin Gülriz Sururi im Stadtteil Şişli. Später wird er über Istanbul sagen, dass er dort frei atmen konnte.

Wie nähert sich das Festival dem Autor?
Wir wollen viele verschiedene Aspekte von Baldwin beleuchten, was vor allem in Form von Lesungen, Vorträgen und Diskussionen geschieht. Wir haben zum Beispiel Alice Hasters, Kameron Locke und Jasco Viefhues eingeladen, über „Race, Class, Gender bei Baldwin“ zu sprechen.

Mit der Rolle von Musik bei Baldwin befassen sich Dalia Ahmed, Malonda und Sven Beckstette, die auch Hörbeispiele mitbringen. Es gibt viele nennenswerte Dokumentationen mit Baldwin, wobei „I Heard it through the Grapevine“ von 1982 eine besondere Stellung einnimmt. Oliver Hardt gibt eine Einführung in den Film.

Welches Buch oder welchen Text würden Sie Menschen, die das Werk von J. Baldwin noch nicht kennen, zum Einstieg empfehlen?
„Mein Kerker bebte“, ein Brief den Baldwin 1963 anlässlich des hundertsten Jahrestags der Sklavenbefreiung an seinen 15-jährigen Neffen schrieb.

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