zum Hauptinhalt
Studentin Jule (Mala Emde) und Tramper Jan (Anton Spieker).

© Kahuuna Films

Hans Weingartners „303“: Berlinale-Generation eröffnet mit Roadmovie

Wie leben, wie lieben? Hans Weingartners Dialogfilm und Roadmovie „303“ eröffnet die Berlinale-Sektion Generation für Kinder und Jugendliche.

Manchmal muss man einfach weg. Alles hinter sich lassen, nachdenken, zu sich kommen. Es so machen wie Jule, die ihre Prüfung vermasselt hat und ungewollt schwanger ist. Das Päckchen mit den Abtreibungspillen hat sie schon gekauft, aber erst will sie mit ihrem Freund Alex sprechen, der in Portugal seine Doktorarbeit schreibt und nicht ahnt, dass er Vater werden könnte. Kurzentschlossen ist die Studentin losgefahren mit dem Wohnmobil, an dessen Tür Fotos vom letzten Urlaub kleben. An einer Tankstelle kurz hinter Berlin gabelt die Mittzwanzigerin den gleichaltrigen Politik-Studenten Jan auf, der nach Spanien trampen will, um seinen leiblichen Vater kennenzulernen. Vor den beiden liegen Hunderte von Kilometern und jede Menge Zeit zum Reden.

Eigentlich hatte Regisseur Hans Weingartner sein Roadmovie „303“, benannt nach der Modelnummer des Wagens, für den Wettbewerb der Berlinale eingereicht, aber dann, so erzählt er, schlugen Festivalchef Dieter Kosslick und Sektionsleiterin Maryanne Redpath ihm „Generation 14plus“ für die Weltpremiere vor – und so eröffnet „303“ nun am Freitag das Jugendprogramm. Er sei „klar happy“ mit dieser Entscheidung. Nicht nur, weil sein Film für junge Leute sei und er sich schon auf die anschließende Diskussion mit dem Publikum freue. „In ,303‘ geht es die ganze Zeit darum, dass Wettbewerb einen kaputt macht, und der Wettbewerb der Berlinale ist extrem hart.“

Die Produktion des Films war langwierig. Ursprünglich sollten die Dreharbeiten bereits 2013 beginnen, doch in letzter Minute platzte die Finanzierung, weil der Sender ausstieg. Auch das Casting zog sich jahrelang hin, weil nicht jeder Schauspieler mit dialogstarken Filme umgehen kann. Mit Mala Emde und Anton Spieker hat er schließlich zwei junge und unbelastet wirkende Darsteller gefunden, die den Film tragen. Vielleicht erklärt all dies, warum man seit 2012, als das psychologische Drama „Die Summe meiner einzelnen Teile“ ins Kino kam, nichts mehr von Weingartner gehört hat. Mit seinem viel beachteten Erstling „Das weiße Rauschen“ (2001) und dem ebenfalls mehrfach ausgezeichneten, 2004 in Cannes uraufgeführten Nachfolger „Die fetten Jahre sind vorbei“ über drei junge Autonome hatte er sich zuvor einen Namen für aufregend junges und politisch engagiertes Kino gemacht. Seine sendungsbewusste Mediensatire „Free Rainer – Dein Fernseher lügt“ (2007) fiel dagegen vergleichsweise schrill aus und kam bei Kritik und Publikum weniger gut an. Mit „303“ geht er zurück zu seinen Wurzeln.

Wiedergänger des Liebespaares aus „Die fetten Jahre sind vorbei“

So verschieden die Figuren in Weingartners Filmen auch sind – stets agieren sie als Gegenentwürfe zu einer kapitalistischen, oft als repressiv empfundenen Gesellschaft, in der untergeht, wer bei der Jagd nach Geld, Karriere oder Macht nicht mitmachen kann oder will. Alle rebellieren auf ihre Art gegen das System, etwa durch eine psychische Krankheit wie im preisgekrönten Spielfilmdebüt. Oder sie leisten Widerstand wie Peter, Jule und Jan in „Die fetten Jahre sind vorbei“, die bei Einbrüchen nichts stehlen, aber mit ihren Aktionen reiche Villenbewohner erschüttern. Die Sehnsucht nach einem Dagegen, nach einem Anders ist spürbar, wenn Hans Weingartner davon schwärmt, wie er als Student nächtelang in WG-Küchen philosophiert oder Mitte der 90er ein Haus besetzt hat. „Als ich nach Berlin kam, war das noch eine Stadt, wo man slacken konnte“, erinnert sich der gebürtige Österreicher. „Heute müssen alle viel Geld für die Miete verdienen, und die jungen Leute müssen studieren, lernen und schnell ihren Bachelor schaffen.“

Jule und Jan aus „303“ gehören dieser Generation an, wirken aber nicht nur wegen derselben Namen wie Wiedergänger des Liebespaares aus „Die fetten Jahre sind vorbei“. Freilich, sie sind weniger radikal im Handeln, dafür aber ebenso kritisch im Denken. Als Gegensatzpaar angelegt, stehen sie im ständigen Diskurs darüber, wie man leben und lieben soll. Jule setzt auf Mitgefühl, kritisiert die „Vereinzelungsstrategie des Kapitalismus“ und glaubt an romantische Liebe. Einmal erklärt die angehende Biologin ihrem Mitfahrer Darwins „Survival of the Fittest“. Nicht der Stärkste überlebe, sondern der, der am besten angepasst sei. Wie sonst ließe sich die Existenz eines Pfaus erklären? Doch Jan ist überzeugt, dass Menschen der Wettkampf im Blut liegt, dass Küssen nichts weiter als „ein Gen-Check“ ist und die Menschheitsgeschichte ein einziges Blutbad. Es geht in „303“ um die ganz großen Themen, aber für den Regisseur dreht sich alles darum, ob Menschen miteinander oder gegeneinander kämpfen wollen. „Das ist die entscheidende Frage, von der das Überleben dieses Planeten jetzt abhängt!“, bricht es aus ihm heraus. „Sind wir Cro-Magnon-Menschen oder Neandertaler?!“

Der Regisseur Hans Weingartner.
Der Regisseur Hans Weingartner.

© Thilo Rückeis

Die Idee eines reinen Dialogfilms schwirrte schon lange in Weingartners Kopf herum, inspiriert auch durch Richard Linklaters leichtfüßige Romanze „Before Sunrise“ (1995), bei der er seinerzeit in Wien mitgearbeitet hat. „Es war die größte Herausforderung meiner Karriere, die Dialoge in ,303‘ natürlich klingen zu lassen.“ Was im Film spontan wirkt, hat er gemeinsam mit Silke Eggert Wort für Wort festgeschrieben. Hunderte von Videointerviews wurden zur Recherche geführt, später dann wochenlang mit den Darstellern geprobt, damit „sie das Drehbuch inhalieren“. Weingartner ist ein leidenschaftlicher Filmemacher und spricht vom Regieführen wie von einem spirituellen Erlebnis.

Es lässt sich, das zeigt „303“, gut reden in einem alten Van, in dem man sich „außerhalb von Raum und Zeit bewegt“. Landschaften und Gedanken ziehen vorüber und ein Flattern liegt in der Luft, weil sich da zwei Menschen langsam – und nicht durch ein paar Klicks im Internet – gegenseitig entdecken. Man möchte es Jule und Jan gleichtun und losfahren in einer alten Kiste, die nicht auf der Überholspur dahinrast. Sonst ist man, so Weingartner, gleich wieder drin „in der effizienten Welt“.

16.2., 19.30 Uhr (HKW), 19.2., 15.30 Uhr (Cubix 8), 25.2., 20 Uhr (HKW)

Kirsten Taylor

Zur Startseite