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Kultur: Held und Tor

Er war eine Schlüsselfigur des Fußballs – in den 70ern, als es noch einen Gerd Müller gab. Heute ist der Mittelstürmer nur der Mann, der in der Mitte spielt. Nicht mehr.

Von Christoph Biermann

Wenn es bumm macht, „dann macht es bumm“, behauptet der Nebenberufs-Sänger und prompt bekommt die Pauke einen kräftigen Schlag. Bumm! Nach diesem akustischen Ausrufezeichen holpert die Bierzeltmusik auf der knisternden Vinylplatte aus dem Jahr 1968 weiter. „Ja, und dann kracht’s!“ So leiert der Interpret in ungelenkem Sprechgesang weiter, bevor ihn der Chor endlich vorstellt. „Und alle schreien, der Müller macht’s.“

Für die Verkaufshitparade reichte das damals nicht, denn die Musik ist schaurig, und singen konnte Gerd Müller auch nicht. Aber hätte man es besser sagen können? Er machte bumm und das unaufhörlich. Müller haute den Ball ins Tor, schob ihn über die Linie, spitzelte ihn am Torwart vorbei, drosch ihn in den Winkel, lupfte ihn über den Keeper. Hunderte von Malen ließ er es krachen und gab dem Toreschießen seinen n. Wenn Müller traf, hatte es gemüllert.

Kleiner, großer Müller

„Alles, was wir geworden sind, haben wir nur dem Gerd zu verdanken“, hat Franz Beckenbauer einmal mit Blick über das Vereinsgelände des FC Bayern gesagt. Das war keine lauwarme Verbeugung gegenüber einem alten Kameraden, sondern nichts als die Wahrheit. Gerd Müller ist der größte Fußballspieler, den dieses Land jemals hervorgebracht hat. Größer als Fritz Walter, größer als Uwe Seeler und größer als Franz Beckenbauer selbst, dazu braucht man nur seine Tore zu zählen. Fußball wird durch Tore entschieden, Tore sind die destillierte Wahrheit des Spiels. 365 Tore schoss Gerd Müller allein in der Bundesliga. Klaus Fischer auf Platz zwei der ewigen Bestenliste erzielte 268 und damit fast hundert Treffer weniger. 68 Tore schoss Müller für die deutsche Nationalmannschaft und ist auch hier ganz vorne. Ihm folgen Rudi Völler und Jürgen Klinsmann mit jeweils 47 Treffern, doch während Müller in 62 Spielen im Schnitt auf mehr als ein Tor pro Partie kam, brauchten Völler und Klinsmann für ihre Treffer 90 beziehungsweise 108 Einsätze.

Müllers Ära war die beste Zeit des deutschen Fußballs, in sie fiel der Gewinn der Europameisterschaft 1972 und der Weltmeisterschaft 1974. Mit dem gelernten Weber aus Nördlingen als Mittelstürmer gewann der FC Bayern drei Europapokale in Folge und wurde zum populärsten Klub. Dass es einen wie ihn nie mehr geben wird, ist aber keine Nostalgie, mit der alte Zeiten verklärt werden. Es ist auch kein Hinsinken vor der übermächtigen Statistik des Mannes, der zum „Bomber der Nation“ wurde. Nicht nur die Metaphorik der Fußballberichte ist nämlich entmilitarisiert, die Bomber selbst sind aus den Strafräumen verschwunden.

Heute sind die Torjägerlisten schwindsüchtige Angelegenheiten. 18 Tore reichten Marcio Amoroso und Martin Max in der vergangenen Saison, um Torschützenkönige der Bundesliga zu werden. Genau drei Jahrzehnte zuvor hatte Gerd Müller noch 40 Tore in einer Spielzeit geschossen. Kontinuierlich ist die Zahl seitdem zurückgegangen, erst schafften Müllers Erben noch 30 Tore im Jahr, dann 25 und nun nicht einmal mehr 20.

Was ist da passiert? Warum treffen die Stürmer so wenig? Müssen wir trotz Vizeweltmeisterschaft zur Klage anheben? Wo sind sie geblieben, die Strafraum-Gespenster, die Männer mit dem Riecher und den einfachen Wahrheiten?

„Vor dem Tor derfst net das Studieren anfangen“, war Gerd Müllers Ratschlag für die Geisteshaltung im gegnerischen Strafraum. Zum leeren Kopf riet auch Klaus Fischer: „Wenn du anfängst nachzudenken, ist der Ball schon weg.“ Haben wir es heute also mit zuviel zaudernden Studierten und zaghaften Denkern zu tun, die das Ziel des Spiels aus den Augen verloren haben, bumm zu machen? Als Fußballspieler noch Schlager sangen und verwegene Koteletten trugen, war Gerd Müller der beste Facharbeiter für das Verwandeln von Torgelegenheiten. In seiner Stellenbeschreibung stand nur eins: Tore schießen. Was er während eines Spiels sonst tat, war allen herzlich egal. Müller hätte mit einem Stuhl im Anstoßkreis Platz nehmen können, während seine Mannschaftskameraden hinten verteidigten. Achtlos durfte er das Spiel im Mittelfeld ignorieren. Seine Zeit kam erst, wenn der Ball sich dem gegnerischen Strafraum näherte.

Müller spielte zwar gemeinsam mit Franz Beckenbauer, Günter Netzer und Wolfgang Overath, die dem deutschen Fußball erstmals ein genialisches Element beifügten und die Beobachter vor Schönheit raunen ließen, doch seine Kunst war das Krachen lassen.

Im September 1976 wählten die Fernsehzuschauer der „Sportschau“ seinen Treffer gegen Tennis Borussia Berlin trotzdem zum „Tor des Monats“. Es war, als wollten sie damit das Gesamtwerk des Torjägers ehren, denn dieser Treffer lag eigentlich abseits der Wege des üblichen Publikumsgeschmacks. Fernschüsse ins Giebelkreuz, Fallrückzieher und Seitfallschüsse wurden und werden hier seit jeher gewählt, doch Müller wurschtelte das Ding prototypisch ins Tor. Ihm sprang der Ball mit dem Rücken zum Tor vor die Füße. Er drehte sich links herum und landete dabei auf dem Hosenboden. Den Ball hatte er dabei irgendwie mit herumgebracht, Müller sprang halb auf und schob ihn mit langgestrecktem linken Bein am Torhüter vorbei. War das schön? Eher wohl verblüffend. Und typisch gemüllert natürlich.

An Treffer von Gerd Müller kann man sich nur erinnern, weil sie wichtig waren.

Der späte Ausgleich im Jahrhundertspiel gegen Italien bei der Weltmeisterschaft in Mexiko, von dem es das berühmte Foto in ewiger Torjägerpose gibt, als er den Ball gerade ins Tor gedroschen hat. Der Siegtreffer im Finale der WM 1974, das so ein Tor aus der Drehung war und eine Torchance, die eigentlich keine war.

Sein schönstes Tor hat er nicht einmal selbst geschossen. Den Doppelpass mit Günter Netzer im Finale der Europameisterschaft 1972 beförderte er per Hacke weiter. Netzer traf und beide wurden gemeinsam Torschützen des Monats.

Fast drei Jahrzehnte sind seit dieser Ära vergangen, und Volker Finke war damals ein Französisch- und Sportstudent, der Lehrer werden wollte. Im letzten Jahr bekam der Trainer nach zehn Jahren beim SC Freiburg eine kleine Jubiläumsschrift geschenkt. Dort hieß es: „Wer in Freiburg ein Tor schießt, hat letztlich nur den letzten Laufweg abgearbeitet.“ Das war eine hübsche Pointe über Finkes Beharren auf dem Kollektiven im Fußball und die grollende Abneigung des Oberstudienrats gegen jeden Starkult im Mannschaftssport. Das Tor als Gemeinschaftsproduktion gilt es seiner Meinung nach zu feiern und nicht den Torschützen.

Zugleich verbarg sich in dieser Sottise ein Nachruf auf den Torjäger von einst. Das hatte wenig mit Finke zu tun und dass er etwas zu viel denken ließ, sondern damit, wie sich das Spiel entwickelte seit Gerd Müller sein letztes Tor geschossen hatte. Lange war die Geschichte des Fußballs nämlich eine der Arbeitsteilung gewesen. Spezialisiert hatten sich die Spieler im Laufe der Jahrzehnte und dabei Phänotypen herausgebidet, die das Publikum oft schon an der Rückennummer erkannte. „Kein Mensch, kein Tier, die Nummer Vier“, riefen sie dem ungehobelten Innenverteidiger und gnadenlosen Abräumer zu.

An der Nummer sollt ihr sie erkennen

Daneben bevölkerten labile Außenstürmer mit den Nummern 7 oder 11 den Platz, grandiose Spielgestalter mit der strahlenden 10 und eifrige Wasserträger mit der blassen 6 oder 8. Der visionäre Libero mit der 5 auf dem Rücken kam aus der Tiefe des Raums. Und vorne stand der Mittelstürmer mit der 9 und haute die Dinger rein.

Eine Versammlung von Facharbeitern war das, die jedoch langsam verschwanden und im Buch der untergegangenen Berufe nun neben dem Kupferstecher, dem Lederer oder dem Sensenschmied stehen. Zuerst wollten es die Zuschauer nicht wahr haben, dass kein Libero die Abwehr mehr ordnete, kein Spielmacher allein mehr die Spiele lenkte oder dass kaltherzige Zerstörer plötzlich Fußball auch spielen sollten. Zugleich musste das Publikum erleben, dass die Torjäger immer weniger Tore schossen.

Ja, es wurde noch schlimmer. Wer heute viele Treffer erzielt, steht unter Verdacht. Ist Amoroso vielleicht zu egoistisch, fragt sich sein Trainer. Hat Max stets nach hinten mitgearbeitet, grübelt die Fachpresse. Und hat sich Ailton gar auf Kosten seiner Mitspieler und des Erfolgs der Mannschaft feiern lassen? Meistertrainer Hennes Weisweiler hatte zu Gerd Müllers Zeiten die Utopie formuliert, dass alle Spieler alles können sollten. Heute ist diese Utopie längst Teil aller Stellenbeschreibungen geworden. Die Spezialisten von einst gibt es auf dem Spielfeld nicht mehr, deshalb hat auch der Facharbeiter für das Verwandeln von Torchancen seinen Job verloren. Und wer ihn zu lange weiterbeschäftigte, musste dafür büßen.

Wovon die Geschichte des späten Toni Polster erzählt, der erst in Köln und danach in Mönchengladbach Tor um Tor erzielte. Die Fans liebten ihn dafür, aber die Tore des Österreichers halfen nicht, denn erst stieg Köln und dann Mönchengladbach aus der Bundesliga ab. Torjäger Toni schadete seiner Mannschaft, das war schließlich die schaurige Erkenntnis, obwohl er so viele Tore schoss.

Denn ihm fehlte die Kraft und die Ausdauer in dem Fußball mitzutun, der längst woanders angekommen war.

Überzahl am Ball herstellen, das ist die Zauberformel überall auf dem Platz geworden. Und dazu müssen alle mittun, die Verteidiger im Offensivspiel und die Angreifer bei Ballverlust. Viel laufen muss man dazu und das konnte Toni nicht.

Vielleicht wollte er es auch nicht, weil Toni noch gelernt hatte, dass er allein dazu da war, bumm zu machen.

Doch wer nach hinten rennt und Lücken schließt, der ist vielleicht gerade dann ein wenig müde, wenn die Chance vor dem Tor da ist. Was ein Grund dafür ist, dass die Torjäger von heute weniger Tore schießen, obwohl nicht weniger Tore fallen. Deshalb gibt es heute Torjäger, die nur noch so heißen, weil sie in der Angriffsmitte spielen.

Jan Koller, der riesengroße Stürmer von Borussia Dortmund, ist so einer. Man sieht den Tschechen und denkt an das Kopfballungeheuer Horst Hrubesch, doch seine Kopfbälle legt er zumeist auf nachrückende Mitspieler auf. So gut in der Defensive schuftete Koller außerdem mit, dass in Dortmund schon über den „vordersten Offensivverteidiger“ gespottet wurde, denn ein paar Treffer mehr hätten es nun doch sein können.

Am Ende aller Laufwege

Auch Arie van Lent von Borussia Mönchengladbach gilt als Torjäger, doch sein Trainer lobt ihn vor allem wegen seiner perfekten Mitarbeit in allen Spielsituationen. Ulf Kirsten, der erfolgreichste Torschütze des letzten Jahrzehnts grätscht inzwischen auch schon in der eigenen Hälfte des Spielfelds, und Giovane Elber vom FC Bayern ist im Kombinationsspiel der Münchner so wichtig wie als Goalgetter.

So gibt es zwar immer noch Spieler, die mehr Tore schießen als andere, doch vorbei ist die Opulenz von einst, der Traum von einem Gerd Müller oder Klaus Fischer, Jupp Heynckes oder Horst Hrubesch. Schon Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann machten nicht mehr allein bumm, sondern wichen weit auf die Flügel aus, ließen sich nach hinten fallen und spielten eifrig mit. Nur Oliver Bierhoff ließ noch einmal den großen Torjäger aufleben, als er im Schnitt fast in jedem zweiten Länderspiel traf und es vor fünf Jahren in Italiens Defensivliga auf fast unheimliche 27 Treffer brachte. Groß, staksig und nur in Maßen mit technischem Geschick ausgestattet, wusste Bierhoff einfach, wohin man den Kopf recken muss, um den Ball über die Linie zu bringen. Doch so bald das nicht mehr gelang, wirkte er wie ein trauriger Dinosaurier, den die Zeit vergessen hatte.

Den Stürmern von heute dürfen wir keine Vorhaltungen machen, dass sie nicht mehr müllern. Sollten sie es nämlich versuchen, wären sie bald ihren Stammplatz los. Die Tore schießen nun alle zusammen, und einige halt nur etwas mehr, weshalb sich die Wehmut über das Aussterben der Goalgetter in Grenzen halten sollte. Mit ihnen verschwanden jedoch seltsame Helden, deren Denken oft karg zu sein schien.

Ihr Glamour erschöpfte sich auf dem Platz, jenseits davon taten sie sich oft schwer. Als seine Ehe scheiterte und Gerd Müller sich im Alkohol verlor, retteten Uli Hoeneß und seine Kollegen ihn vor gut einem Jahrzehnt vor dem Absturz, kümmerten sich um ihn und geben ihm seitdem diverse Trainerjobs beim FC Bayern. Sein Wissen gibt Müller dort an stets neue Generationen weiter, und es lässt sich in einem Satz zusammenfassen. „Die Stürmer hauen zu sehr drauf, sie müssen mehr schieben“, sagt Gerd Müller.

Und das ist eine ewige Wahrheit, an die sich alle halten sollten am Ende des letzten Laufwegs.

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