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Kultur: Heute droht der Gedenkstätte Verfall - sie soll neu entworfen werden. Ein Gang durch Vergangenheit und Zukunft

Das hier, sagt Günter Morsch, ist ein Urberliner Ort. Der Juliabend steht leichthin im offenen Fenster des Gebäudes der früheren IKL, der "Inspektion der Konzentrationslager".

Das hier, sagt Günter Morsch, ist ein Urberliner Ort. Der Juliabend steht leichthin im offenen Fenster des Gebäudes der früheren IKL, der "Inspektion der Konzentrationslager". Die Zentrale. Alle Konzentrations- und Vernichtungslager Deutschlands wurden von hier aus dirigiert. Ob die Oranienburger das wissen, wenn sie unten im Erdgeschoß jetzt ihre Steuererklärungen abgeben? Ob ihre Blicke an den Treppengeländern die fehlenden Stücke ergänzen, jene SS-Runen?"Dort zwischen den Bäumen, sehen Sie, da wohnte Höß, der Lagerkommandant von Auschwitz!" Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg, sticht den Finger in die Luft. Irgendwann waren sie alle mal hier. Die Lagerkommandanten und ihre willigen Vollstrecker. Oranienburg war die Stadt der SS, sagt Morsch. Und das soll ein Urberliner Ort sein?Morsch zögert, so als suche er nach dem Motiv für die Harmlosigkeit solcher Frage. Ist es die Berliner Ignoranz, die er so gut kennt? Sicher, ein KZ erbt keiner gern. Und dann noch dieses. Ein "modernes, vollkommen neuzeitliches Konzentrationslager", hatte Himmler gesagt. Beispielhaft sollte es werden, und wurde es. In der Reichshauptstadt waren die Olympischen Spiele, hier baute man ein Lager. Für das unberechenbare, das "rote Berlin". "Und was meinen Sie, wo die Berliner Juden nach dem 9. November 1938 hinkamen?" Sie kamen nach Sachsenhausen. Oder: Wie hätte Albert Speer hoffen können, mit der Reichshauptstadt Germania bis zur Weltausstellung 1955 fertig zu sein - ohne die größte Ziegelbrennerei der Welt? Sie gehörte zu Sachsenhausen. "Arbeit macht frei", steht am Lagertor.Auch Konzentrationslager verfallen. Sie verrotten. Ihre Fundamente faulen. Liegt nicht beinahe ein Trost darin? Nein, widerspricht Morsch, ein Problem. Das größte Problem überhaupt. Morsch ist Gedenkstättenleiter. Ein Gedenkstättenleiter ist jemand, der krank wird, wenn seine Gedenkstätte vor den eigenen Augen verschwindet. Der vorher schnell noch etwas tun muß. Sanierungspläne entwerfen. Und für die allerschwersten Stellen einen Architektenwettbewerb ausschreiben. Andere hätten vielleicht schon aufgegeben. Morsch nicht, denn der Historiker sieht all das mit, was längst nicht mehr existiert. Die geschichtliche Topographie des Ortes. Die "schwersten Stellen" in Sachsenhausen sind die "Station Z", die Vernichtungsstätte und das sowjetische NKWD-"Speziallager Nr. 7". Beide Wettbewerbe sind nun entschieden. Noch in diesem Jahr soll gebaut werden. Morsch tritt vor die Lagerkarte.Sachsenhausen, ein gleichschenkliges Dreieck. Und wenn nur ein Luftbild von diesem Lager bleiben würde, es wäre beredt genug. Das erste Reißbrett-KZ. Die Geometrie des vollkommenen Terrors. Mit einem einzigen Maschinengewehr vom zentralen Wachturm aus 10 000 Menschen kontrollieren können. Der totale Blick, die Idee des Panoptikums, wie sie aus der Renaissance kommt: Auge Gottes zu sein. Nur das Maschinengewehr war wirklich neu.Günter Morsch spricht jetzt über "das Verhältnis von historischem Relikt und Interpretation". Man müsse es umkehren und "die antithetische Überformung des Lagers aufheben". Der Mann ist Akademiker. Aber was ist die "antithetische Überformung" in einem früheren Konzentrationslager?Der Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses steht vor Turm A. Morsch zeigt ihm sein bislang ausgeschlagenes Erbe. Er steht ungefähr dort, wo der SS-Mann mit dem Maschinengewehr war. Der Blick prallt zurück an einer hohen grauen Beton-Kreuzmauer. Die DDR hat sie dorthin gebaut. Sie brach den Panoptikums-Blick der SS. Nur in der Mitte schaut man noch hindurch - auf den Obelisk am Ende des Lagers. In seiner Spitze sind rote Dreiecke, solche, wie sie die politischen Häftlinge trugen. Die Kommunisten. Der Obelisk steht für den Sieg des Antifaschismus. Hier hatte Ulbricht 1961 Sachsenhausen als Gedenkstätte eröffnet. Der Obelisk soll bleiben, da sind sich alle einig. Aber die Betonmauer müsse weg. Sie kanalisierte ein neues triumphales Schauen. "Vorsicht, Einsturzgefahr!" steht jetzt an ihrem grauen Beton.Das KZ Sachsenhausen gab es auf keiner Karte der Roten Armee. Man fand es zufällig, am 22. April 1945. Ohne Tagesbefehl. Nur noch 3000 Menschen waren da, meist Kranke. Die Sprengladungen um die Krankenbaracken hatte niemand mehr gezündet. Vergessen vielleicht beim schnellen Aufbruch zu den Todesmärschen in Richtung Ostsee. Die Baracken sind von Planen umhüllt. Eine Baustelle wie jede andere. Hier testete man die Zyankalikapseln, die Hitler immer bei sich trug. Die einzigen erhaltenen Baracken aus der Entstehungszeit des Lagers, sagt Morsch. Und erst kürzlich habe man die erste Pathologie von Sachsenhausen gefunden. Einen Keller, 1945 mit Schutt gefüllt und seitdem verschlossen. 2001 soll hier die Ausstellung "Medizin und Verbrechen" eröffnet werden. Eine von vielen. Morsch nennt das "ein dezentrales und integrales Gedenkstättenkonzept". Man könnte auch sagen: Das Erhaltene soll Hinweise geben, soll sich fügen zur Erklärung eines ganzen Systems. "Kognition und Emotion gehören zusammen!" rief Morsch vorhin vor der Lagerkarte. Es gilt auch hier: Man sieht nur, was man schon weiß. Man weiß jedoch anders, was man auch sieht.Dort, wo das Krematorium war und die Gaskammer, wo man im Herbst 1941 etwa 12 000 sowjetische Kriegsgefangene ermordete, sinken jetzt die Fundamente der Verbrennungsöfen in den Brandenburger Sand. Darüber ein riesiges graues Betondach. Der Beton sollte eine "Gedenkhalle" sein. Aber er wirkt wie ein schwebender Grabstein. Noch in diesem Jahr wird er abgerissen. Man will die Relikte konservieren und unter einem gleichsam schwebenden, transparenten Dach verschließen. Der Berliner Architekt H. G. Merz hat es entworfen. Mehr Hülle als Dach. Morsch ist begeistert. Es handele sich um eine "völlig neue haptische Situation". Der Anflug einer leisen Irritation überzieht die Mienen einzelner Vertreter des Berliner Kulturausschusses. Was, um Himmels willen, war doch gleich eine haptische Situation?1946 starb Heinrich George in Sachsenhausen. Im sowjetischen Speziallager Nr. 7 für Nazis, Kriegsverbrecher und Unschuldige. Es war abgetrennt von der Umwelt, anders als das KZ zuvor. Ein Schweigelager. Keine Briefe gingen hinein oder hinaus. Nach der Auflösung des Lagers 1950 plante die Kasernierte Volkspolizei am früheren Krematorium einen Schießstand. Und auf dem Appellplatz spielte man Fußball. Jetzt soll ein Museum an die in der DDR tabuisierte Zeit erinnern. Ein spiegelnder Betonbau, gerade so hermetisch, verschlossen nach außen, wie das Speziallager war. Draußen bei den Massengräbern wird er stehen. Das Konzentrationslager, noch ist es eine Wiese. Numerierte Steine zählen die Baracken. Und sind Grabmale zugleich. Der Natur zurückgeben, was man ihr nahm. Mag sein, daß dem Leiter der Brandenburgischen Gedenkstätten diese Geste zu groß ist und zu klein zugleich. Er will diesen Ort authentischer, lesbarer. Zwei Baracken stehen in der Mitte des Lagers. Die Häftlingsküche und Häftlingswäscherei. Wir gehen hinunter in den Keller der vormaligen Lagerküche, vorbei an dem roten Aufsteller "Das antifaschistische Vermächtnis lebt in unseren Taten für Sozialismus und Frieden, gegen Hochrüstung und imperialistischen Krieg". Der Kulturausschuß lächelt. Und dann nochmal, Angesicht in Angesicht mit lauter Kartoffel-, Möhren- und Zwiebelmännchen. Kartoffeln beim Baden. Kartoffeln mit Messer und Gabel. Besser selber essen als gegessen werden. Diese Keller-Wandbilder sind von Hans Fischerkösen, dem Trickfilmpionier. 300 Häftlinge schälten hier Tag und Nacht Kartoffeln, die Füße immer im Wasser.Die Säulen hängen in der Luft, erklärt Morsch, der Stahl sei längst durchgerostet. "Totalsanierung oder Schließung, etwas anderes kommt nicht in Frage!" Seit 1970 hat die DDR hier nichts mehr unternommen. Jetzt finanzieren Brandenburg und der Bund die Erhaltung der Gedenkstätte. Morsch schaut den Berliner Kulturausschuß ermutigend an. Dieser versucht einen mittleren Gesichtsausdruck zwischen ehrlicher Anteilnahme und unbeschreiblicher Armut. Oben in der Häftlingsküche ist das Gedenkstättenmuseum. Der Grund, weshalb Günter Morsch fast jede Woche Post vom Deutschen Bundestag bekommt. Denn das Museum ist von 1961. Und ein bißchen ideologisch. Ein Museum also im Museum. Schade, wenn es verschwände. Genau wie man gegenüber, in der früheren Häftlingswäscherei, noch immer den Film der Sowjetarmee von 1946 sieht. Ein unwiederbringliches Zeitdokument. Bundestagsabgeordnete, die nach Sachsenhausen kommen, mögen das nicht. Kommunistische Propaganda im Jahre 10 nach der Einheit?Der Kulturausschuß fährt weiter nach Ravensbrück, ins vormalige Frauenkonzentrationslager. Jetzt steht die Klasse 10 b des Von-Saldern-Gymnasiums Brandenburg vorm Wachturm A. Hubertus Seidel, ein Zivildienstleistender, erklärt den Schülern "den totalen Blick". In der Baracke 38 bleiben sie lange vor ein paar Fotos stehen. Es sind nur Straßen, ein paar Menschen und Schilder darauf: "Juden aller Länder, vereinigt euch, aber nicht in Birkenwerder!" Oder "Juden ist die Luft in Buckow unzuträglich". Brandenburger Stadtansichten vor 60 Jahren. Hier, in der einstigen "Judenbaracke", zerstört durch einen Brandanschlag 1992 kurz nach dem Staatsbesuch Jitzhak Rabins und als Museum wiederaufgebaut, ahnt man, was dieser Ort künftig vermag. Und weiß wieder, daß Gedenken von Denken kommt. Die Geometrie des Schreckens lesbar machen.Es gab nur einen einzigen Grund, daß Sachsenhausen nicht zum Muster aller künftigen Konzentrationslager wurde. Es war nicht grenzenlos erweiterbar. Eine Allee führt vom Lager weg auf ein Stück Eichenwald zu. Darin steht die "Villa Eicke". Jeden Tag ritt Lagerkommandant Theodor Eicke diesen Weg. Unlängst wurde das Haus eine internationale Jugendbegegnungsstätte.

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