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Mit Kopf und Herz in Deutschland. Peter Merseburger.

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Lebenserinnerungen: In den Hitzen der Debatte

Mit Kopf und Herz in Deutschland: Der Fernsehjournalist Peter Merseburger schreibt seine Lebenserinnerungen.

Er war, es liegt schon etliche Jahrzehnte zurück, einer der prominentesten Fernsehköpfe der Republik. Inzwischen ist er zum Autor bedeutender politischer Biografien geworden, von Theodor Heuss und Willy Brandt bis zu Rudolf Augstein. Doch die Lebenserinnerungen, die Peter Merseburger jetzt geschrieben hat, sind keine reine Autobiografie.

Als „politischer Zeitgenosse“ – so der Untertitel – blickt er zurück. Nicht im Persönlichen, gar Privaten findet der Journalist seinen Stoff, sondern in der Teilhabe am Zeitgeschehen. Diese Erinnerungen sind der Ertrag erlebter politischer Geschichte, und da Merseburger mittlerweile das Alter von 90 Jahren überschritten hat, spiegeln sie auch das deutsche Nachkriegsschicksal.

[Peter Merseburger: Aufbruch ins Ungewisse. Erinnerungen eines politischen Zeitgenossen. DVA, München 2021. 462 Seiten, 26 €.]

Die Perspektive eines Beobachters verlässt Merseburger nur für seine frühen Jahre. Diese Vorspiele des Lebens in Zeitz, einer mittleren Industriestadt in Sachsen-Anhalt, bedeuten eine prekäre Existenz zwischen den Zeiten, aufgewachsen in einer Nische noch fast intakter Bürgerlichkeit als Angehöriger einer „zwangspolitisierten“ Generation. Dann die Wirren von Krieg, Flakhelfer-Einsatz und Zusammenbruch. Wobei für Merseburger eher „etwas aufbrach“ (wie er den Musikkritiker Joachim Kaiser zitiert, ebenfalls Jahrgang 1928).

Anfang eines kritischen Bewusstseins

Von den Erfahrungen dieser Jahre her datiert Merseburger auch den Anfang eines kritischen Bewusstseins. Dazu kommt eine Episode, in der ihn der Beginn und das Scheitern der Politik in Ostdeutschland streift: 14 Tage Gefängnis, weil er im Wahlkampf Plakate geklebt hat, übrigens für die CDU. Als Jakob Kaiser, deren führender Kopf von den Sowjets abgelöst wurde, war das für Merseburger, inzwischen Student in Halle, „das Signal, sobald wie möglich gen Westen aufzubrechen“.

Das Bindeglied dieser Erinnerungen ist eine glänzende journalistische Laufbahn: Anfang bei Regionalzeitungen, dann der Wechsel zum „Spiegel“, dann das Fernsehen, das in diesen Jahren zum mächtigen Medium heranwächst. Hängt es damit zusammen, dass er ziemlich oft dort ist, wo die Nachkriegsgeschichte die scharfen Bögen schlug? Merseburger erlebt Ernst Reuters Rede vor dem Reichstag im Frühjahr 1948, als sich die Berlin-Krise zum bedrohlichen Knoten schürzte.

Er ist im Morgengrauen in der Mitte Berlins, als die Mauer gebaut wird, und Beobachter der schwierigen Jahre, in denen West-Berlin nach einer neuen Rolle sucht. Und in den sechziger und siebziger Jahren, in denen sich Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik rapide veränderten, sitzt er als Leiter des Fernsehmagazins „Panorama“ am Kreuzungspunkt der Auseinandersetzungen zwischen Jugendrevolte, Abtreibungsdiskussion und dem Kampf um die Ostpolitik.

Viel Zeitgeschichte also, und in Merseburgers Erzählung wird daraus durchaus so etwas wie eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. Es ist, grosso modo, die Geschichte, die wir kennen, und der Autor begnügt sich gelegentlich auch damit, die Ereignisse zu rekapitulieren, argumentativ hin und her zu wenden und sie mit dem Stempel seines Urteils zu versehen. Zugleich allerdings bekommt man eine Ahnung von der Hitzigkeit der Auseinandersetzungen, die damals die Bundesrepublik erfüllten.

Endloses Rechten über die Schuldfrage

Das endlose Rechten über die Schuldfrage, über den Bombenkrieg oder das Kreisen um das Problem, das Helmut Schmidt später „die Tragödie des Pflichtbewusstseins“ genannt hat, immer wieder angeschoben von den Ereignissen, an denen sich in diesen Jahren die Gemüter erhitzten – dem Koreakrieg, der Wiederbewaffnung und der Ostpolitik.

Vor allem ist man betroffen, wie lange der Krieg noch über der Nachkriegszeit lag. Aber seinen ersten Anstellungsvertrag handelte der Jungredakteur Merseburger ja auch mit einem Oberst im Generalstab a. D. aus, der als Chef vom Dienst bei seiner Zeitung untergekommen war; tatsächlich wimmelt es in den Redaktionen von ehemaligen Militärs.

Fast kann man die Schlusskapitel des Buches, die Merseburgers Tätigkeit als ARD-Auslandskorrespondent gewidmet sind, als Zeugnisse eines Ausgleichs für die deutschen Geschichtsstunden betrachten, die sein Leben ihm bis dahin beschert hat. Gemessen daran bewegte sich seine Tätigkeit in Washington und London in der Tat in ruhigeren Bahnen und konnte der „Neugier auf Neues“ frönen, in der Merseburger die Anziehungskraft des Journalismus sieht. Wären da nicht die fünf Jahre, die er von 1982 bis 1987 aus Ost-Berlin über die DDR berichtete.

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Unvergleichbar die Situation, für die Westdeutschen über Ostdeutschland zu berichten, aber zugleich für das „Staatsvolk der kleinen Leute“ in der DDR! Prägnant hält er fest, wie in dieser Spätphase der DDR das realsozialistische Auftrumpfen mit dem Aufklaffen der Risse im System zusammenging. Das durchaus instruktive Bild der DDR erscheint gleichwohl in einer leicht gespenstischen Doppelperspektive – der des Berichterstatters und der des Zeitzeugen, der weiß, dass sein Gegenstand binnen Kurzem der Vergangenheit angehören wird.

Dieses Endspiel hat Merseburger übrigens schon von London aus beobachtet – der Wechsel der Positionen gehorcht bei der ARD offenbar bürokratischen Abmachungen, nicht den Gezeiten der Geschichte. Aber mit Kopf und Herz ist er ganz in der Deutschland: Die Erinnerungen bestätigen das, indem sie mit einer breiten, kritischen und ein wenig ratlosen Reflexion über die Haltung der jüngeren SPD-Generation in der Einheitsfrage schließen.

Das habe ihn dazu gebracht, bekennt Merseburger, sein Buch über Kurt Schumacher, den ersten Vorsitzenden der SPD, zu beginnen. Denn dessen Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit war – Merseburger registriert es durchaus schmerzlich – „bei seinen Urenkeln offenbar in Vergessenheit geraten“.

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