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Justin Kemp (Nicholas Hoult, mitte) sitzt in der Jury eines Gerichtsprozesses, der mehr mit ihm zu tun hat, als im recht sein kann.

© Warner Bros.

Clint Eastwoods „Juror #2“ im Kino : Mildernde Umstände für das Vermächtnis von Dirty Harry

Mit 94 Jahren nimmt Clint Eastwood in seinem Gerichtsdrama noch einmal das amerikanische Rechtsverständnis ins Visier. Das ist gerade wieder hochaktuell.

Stand:

Vor dem Gerichtsgebäude von Savannah, Georgia legt Justitia ungerührt Zeugnis von Amerikas Justiz ab. Die Waage wiegt leicht im Wind, nichtsahnend von den Erschütterungen, denen das amerikanische Rechtswesen im vergangenen Jahrhundert immer wieder ausgesetzt war. Die Beständigkeit von Recht und Demokratie lässt sich nur in großen Zeitbögen bemessen, denen kleine Pannen im System – wie ein konservativ dominierter Oberster Gerichtshof – nichts anhaben können.

Clint Eastwood kehrt in seiner 40. Regiearbeit „Juror #2“ mehrmals zur Statue von Justitia zurück, möglicherweise auch aus Gründen der Selbstvergewisserung. Sie steht dann aber immer noch da, auch wenn ihre Waage manchmal Schlagseite hat. Der wertkonservative Patriot Eastwood hat sich in seiner inzwischen siebzigjährigen Karriere oft mit Fragen der (subjektiven wie objektiven) Gerechtigkeit beschäftigt, am radikalsten sicherlich mit seinem Selbstjustiz-Cop Dirty Harry, dem der Finger etwas zu locker am Abzug saß.

Dass Amerika ein Problem mit Recht und Ordnung hat, ist im konservativen Weltbild eines Eastwood gewissermaßen die Quintessenz. Diese prinzipielle Skepsis gegenüber den Institutionen bescherte Hollywood erschütternde Dramen wie „Mystic River“ oder „Million Dollar Baby“, die dem amerikanischen Rechtsverständnis ein paar Schwinger in die Magengrube versetzten. In seinem Thriller „Absolute Power“ machte Eastwoods Verstimmung nicht mal vor dem Amt des Präsidenten halt.

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Was also hat der 94-jährige Clint Eastwood, der auf dem Parteitag der Republikaner 2012 mit einem leeren Stuhl sprach, in seinem möglicherweise letzten Film – wobei darüber im Grunde schon seit „Gran Torino“ von 2008 spekuliert wird – noch über das amerikanische Rechtssystem zu sagen? Moralische Dilemmata, für die die Instrumente der Justiz zu grob sind, haben Eastwood immer besonders interessiert, weil sich hier sein Verständnis einer essenziellen Menschlichkeit in Ausnahmesituationen präsentierte.

Der unscheinbare Familienvater in spe Justin Kemp (Nicholas Hoult) – in der ersten Szene führt er seine schwangere Frau (Zoey Deutch), wie Justitia ebenfalls mit verbundenen Augen, in das von ihm eingerichtete Babyzimmer – fungiert hier als perfekter Kandidat für Eastwoods Lackmustest der Gerechtigkeit. Justin ist ein guter Amerikaner, nicht ohne Makel (er ist trockener Alkoholiker), aber ein liebender Ehemann und zweifellos auch ein fürsorgender Vater.

Zur Unzeit, kurz vor der Geburt seines Kindes, wird er zu Jurypflichten verdonnert. Mit einer Unverschämtheit versucht er sich noch der Staatsbürgerpflicht zu entziehen, was ihn in den Augen der Richterin (Amy Aquino) aber erst recht für den Dienst am Volke prädestiniert.

Der Mordprozess gegen James Michael Sythe (Gabriel Basso) – ehemaliges Gang-Mitglied, nackentätowiert, aufbrausend, kurz: keine Säule der Gesellschaft – ist ohnehin eine klare Angelegenheit. Der Schuldspruch sollte nicht länger als zwei Stunden dauern, meint auch die Staatsanwältin mit dem sprechenden Namen Faith Killebrew (Toni Collette), die sich durch den Prozess eine politische Karriere erhofft. Sythe hat seine Freundin (Eastwoods Tochter Francesca) nach einem Streit in einer Bar mutmaßlich auf einer Landstraße mit dem Auto überfahren.

Ist der Juror der Mörder?

Aber dann geht die Jury ohne Entscheidung ins Wochenende. Der Grund ist Justin: Er muss in der Verhandlung feststellen, dass er sich in der betreffenden Nacht ebenfalls in der Bar befand, diese aber noch rechtzeitig vor einem Rückfall verlassen hatte. Auf der Heimfahrt fuhr er dann ein Reh an – eine Version von den Ereignissen der Nacht, die er zunehmend in Zweifel zieht. Justin entscheidet sich für einen waghalsigen Schachzug: Er will die Jury von der Unschuld des Angeklagten überzeugen, ohne sich selbst als Tatverdächtiger ins Spiel zu bringen.

Amerikanischer Klassiker. „Juror #2“ ist der 40. Film von Clint Eastwood, der im Mai seinen 95. Geburtstag feiert.

© picture alliance/dpa/Invision/Jordan Strauss

Die Unzulänglichkeit der amerikanischen Justiz ist Eastwood ein Dorn im Auge, aber er erkennt auch die menschlichen Fehler im System an. Für Killebrew ist ein schnelles Urteil karrierefördernd, da wird sogar ein äußerst unzuverlässiger, weil halb blinder Augenzeuge in Kauf genommen. Ihr freundlicher Schlagabtausch mit dem Verteidiger (Chris Messina) – im Gerichtssaal, am Ende des Arbeitstags in der Bar – erinnert eher an ein sportliches Sparring, bei dem jede Partei die Plattitüden aufsagt, die ihre Rollen ihnen vorgeben.

Aber auch die Mitglieder der Jury haben ihre persönlichen Gründe, warum sie auf einen schnellen Schuldspruch beharren. Der Afroamerikaner Markus (Cedric Yarbrough) hat seine Erfahrung mit Ganggewalt gemacht, andere wollen ihr Wochenende nicht fernab der Familie in einem stickigen Hinterzimmer verbringen. James Michael Sythe scheint entbehrlich zu sein.

Ausgerechnet Justin, der heimliche Verdächtige, ist der einzige, der sich für die Wahrheit interessiert – ob Eastwood diesen Twist ironisch oder eher zynisch meint, wird aber nicht ganz klar. Unterstützung bekommt er von einem ehemaligen Polizisten (J. K. Simmons), der an freien Tagen eigene Ermittlungen anstellt, woraufhin er von seinen Pflichten als Juror entbunden wird. Dass weder Staatsanwältin noch Verteidiger bei der Jury-Auswahl seinen Beruf erfragen, ist eine Drehbuch-Schlampigkeit – oder auch eine weitere Schwachstelle der Justiz.

Eastwood zeigt in „Juror #2“ keine Neugier an den ohnehin überschaubaren erzählerischen Möglichkeiten des Gerichtsdramas. Seine Inszenierung ist altmodisch, fast zu schmucklos, um sie überhaupt noch klassisch zu nennen. Es gibt ein paar dramatische Wortgefechte, gelegentlich eine Rückblende. Man mag es ihm nachsehen.

Eastwood hat als Regisseur niemandem mehr etwas zu beweisen. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde das Kino für ihn zunehmend ein Mittel zum Zweck, um seiner Rolle als Kommentator der amerikanischen Verhältnisse eine handwerkliche Autorität zu verleihen. Dahingehend ist es natürlich hochinteressant, zu welchem Urteil Eastwood – beziehungsweise die Jury – in seinem späten Spätwerk kommt. „Juror #2“ ist nicht der große Film, um eine solche Karriere angemessen zu beenden. Aber für das Vermächtnis des einstigen Dirty Harry könnte er mildernde Umstände bedeuten.

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