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''Lettre'': Buchstaben für die Welt

Seit 20 Jahren erscheint die deutsche Ausgabe von "Lettre“ in Berlin. Aus der europäischen Perspektive ist längst eine globale geworden. Es geht um all die Themen, die unseren Blick meist auf uns selbst zurücklenken.

Frank Berberich, Chef der deutschsprachigen „Lettre International“, ist ausnehmend gut gelaunt. Man kann das verstehen. Die Jubiläumsnummer ist fertig, die Hefte liegen auf einer großen Palette im vierten Stock einer Kreuzberger Fabriketage. Hell sind die Räume, großzügig und freundlich. Anders als im letzten Büro in der Rosenthaler Straße, wo man tagsüber das Licht anschalten musste. Anders auch als in dem Schöneberger Dental-Labor, wo Berberich vor 20 Jahren begonnen hat, eine der aufregendsten, klügsten und schönsten Zeitschriften zu machen. Nein, lacht er, hier werde keiner mehr depressiv. Warum auch. Die deutsche Ausgabe von „Lettre“ wird 20, das Jubiläumsheft ist ein Feuerwerk.

Schaut man ins vierseitige (!) Inhaltsverzeichnis, springt einen gleichsam die Welt an: Haiti, Afghanistan und Kongo heißen die Schauplätze. Dazu China, Russland, USA und noch ein paar Dutzend mehr. Themen sind Mönche in Birma, Flüchtlinge im Mittelmeerraum, Korruption beim IOC, unser leidenschaftsloser Wohlstand, indianische Urvölker Kanadas und noch ein paar Dutzend mehr. Der Titel des Heftes lautet: „The Way We Live Now / So leben wir jetzt“ – weniger grundsätzlich wollte „Lettre“ nie sein.

Aus einem Aktenschrank wühlt Berberich die erste Nummer der allerersten „Lettre“-Ausgabe – der französischen – hervor. Sie war Franz Kafka gewidmet, und das hatte seine Richtigkeit. Der Tscheche Antonin J. Liehm hatte sein Land nach Ende des Prager Frühlings verlassen und 1984 in Frankreich „Lettre“ gegründet. Mit Kafka grüßte er die sozialistischen Betonköpfe, die den Schriftsteller zum Konterrevolutionär stempelten. Vor allem aber grüßte er ihre Opponenten. Denn das war Ziel des Zeitschriftenunternehmens: die politische Blockteilung intellektuell aufzuweichen. Und während in Brüssel noch über ökonomische Modalitäten der europäischen Vereinigung verhandelt wurde, begründeten eigenständige „Lettre“-Ausgaben in Rom, Madrid und Berlin eine kulturelle europäische Öffentlichkeit. Nach 1989 kamen nationale Ausgaben in Mittel- und Osteuropa hinzu. Viele mussten aus finanziellen Gründen wieder aufgeben, heute gibt es „Lettre“ in Italien, Rumänien, Spanien, Ungarn und Deutschland.

Aus der europäischen Perspektive ist längst eine globale geworden. Es geht um all die Themen, erzählt Berberich, die so nicht oder zu spät vorkommen in der „Spiegelwelt“ unserer Medien, die unseren Blick meist auf uns selbst zurücklenken. Die von der Aufmerksamkeit abgehängten Zonen. Afghanistan, sagt Berberich. Oder, ganz aktuell, Birma – „Es wäre gut gewesen, wenn wir mehr von der Welt gewusst hätten.“ Dieses Weltwissen wird bei „Lettre“ gesucht, gesammelt und für deutschsprachige Leser publik gemacht. Viermal im Jahr auf 128 Seiten für 11 Euro.

Wie viele hochkarätige Autoren die Zeitschrift in 20 Jahren entdeckt und ins deutschsprachige Kulturleben eingespeist hat, lässt sich kaum abschätzen: Baudrillard und Derrida waren fast Stammgäste, den Jahrhundertreporter Ryszard Kapuszinski hat Berberich selbst in zwei 10-Stunden-Interviews befragt. Dazu kommen die britische China-Expertin Isabel Hilton, der tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb, der amerikanische Neurologe Oliver Sachs. Übersetzungen machen 70 bis 80 Prozent der Beiträge aus – alles deutsche Erstveröffentlichungen. „Lettre“ legt Wert auf Denken aus erster Hand.

Die Zeitschrift hat die europäische Tradition akademischer Preisfragen mit einem internationalen Essay-Wettbewerb (1997-99) wiederbelebt. Für „Weltreporter unterwegs“ haben sieben Reporter zur gleichen Zeit an sieben Orten von der Arktis bis zum Kongo die „Peripherie der Globalisierung“ erkundet (1998). Und den ersten „Lettre Ulysses Award“, den Weltpreis für literarische Reportage, hat 2003 Anna Politkowskaja gewonnen. Seit zwei Jahren aber gibt es den Sponsor nicht mehr, der Preis ist suspendiert.

Im Unterschied zu anderen Zeitschriften, die an Institutionen gekoppelt sind und entsprechende Förderung erfahren, lebt „Lettre International“ ausschließlich vom Verkauf und dem Anzeigengeschäft. Berberich kennt Fördersummen und Verteilungsungerechtigkeiten. „Für alle Kultursparten“, kommentiert er trocken, „gibt es Förderungen, nur nicht für diskursives Denken“. Allein, von Jammer oder Verbitterung nicht der Hauch einer Spur. Von der Druckauflage (22 000 Exemplare) werden bis zu 18 000 verkauft, das Anzeigenvolumen steigt – gegen den Trend in der Branche.

„Lettre“ funktioniert. Wegen des Netzwerks aus Autoren, Übersetzern, Fotografen und Künstlern, die aus Interesse an der Sache (und gewiss nicht am Geld) jede Nummer zu einem Erlebnis machen. Denn „Lettre“ ist, gemessen an seinen Inhalten, eigentlich ein dickes Buch in sehr kleiner Schrift. Aber ein Buch, das sich den Luxus des Riesenformats von 37 mal 27 Zentimetern gönnt, um Fotografie und Kunst wirkungsvoll zu präsentieren – im aktuellen Heft mit Georg Baselitz, Miquel Barceló oder Robert Longo.

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