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DDR-Perspektive: Mauerspechte

Eine DDR-Reporterin erlebt die Berlinale: Kein Westgeld, dafür Essenscoupons. Keine Stars, aber schicke Toiletten.

Als ich 15 war und im Osten lebte, war die Berlinale für mich ein Foto von Sophia Loren und Gina Lollobrigida, tief dekolletiert und lang bewimpert: Blitzlicht, Stars, Kurfürstendamm. Vor dem Mauerbau gab es Grenzkinos, in denen man eins zu eins für Ostmark ins Kino gehen konnte. Ich habe „Außer Atem“ gesehen und mir danach die Haare wie Jean Seberg schneiden lassen. Damals war ich aber noch nicht so filmverrückt, dass ich für fünfmal so teures Westgeld zur Berlinale gerannt wäre. Jazzclubs waren wichtiger.

Später, hinter der Mauer, wollte ich dringend auf die Berlinale. In den achtziger Jahren bekam ich als Filmredakteurin der Wochenzeitung „Sonntag“ sogar persönliche Einladungen. Aber die hat mir meistens mein Chefredakteur weggeschnappt. Als ich stattdessen mit seinem Segen zu einem kleinen Dokumentarfilmfestival nach Lille reisen durfte, fand ich das atemberaubend, ich bin heimlich in Paris ausgestiegen. Das war noch besser als Berlinale, mein Traum war ja nicht der Westen, sondern Frankreich.

1988 besuchte ich das Festival dann tatsächlich. Am Nachmittag war ich das erste Mal durch die Straßen von Kreuzberg gegangen, am Abend wollte ich unbedingt in die Premierenvorstellung von „Linie 1“, dem Eröffnungsfilm, hatte aber keine Karte. Irgendwie konnte ich mich ins Kino schmuggeln und saß auf einem Platz, der wie durch ein Wunder nicht besetzt wurde. Der Film war für mich mächtig beeindruckend. Wir pflegten in Ost-Berlin ja so eine linke Sehnsucht nach Kreuzberg. „Als Konsumentin ein Skandal“, heißt es in „Linie 1“ über die arbeitslose Maria, die sich vor die U-Bahn wirft, das empfand ich als schrecklich treffend. „Wie gut, dass manchmal son Engel erscheint und für mich weint“ – den Satz habe ich zur Überschrift für meinen Bericht gemacht.

Weil ich nicht zwischen Ost und West pendeln wollte – man erlebte ja nichts, wenn man abends zurück musste –, hatte mir jemand eine Unterkunft in der Akademie der Künste besorgt. Und ich bekam großzügige Essenbons vom Festival. Das waren quälende Minuten, als ich in der Budapester Straße vor dem damaligen Pressechef Horst Benzrath stand. Ich nahm all meinen Mut zusammen: „Könnte es sein, dass Restaurant-Gutscheine für mich hinterlegt sind?“ Der schmale Mann musterte mich eine lange Weile von oben bis unten, von unten bis oben und sagte dann mit einem erlösenden Lächeln: „Warum nicht.“ Wie im Kino. Eine cineastische Arabeske zum Thema potenter Westler und bedürftiger Ostler.

Der gemütliche Italiener in der Marburger Straße, wo ich Lasagne essen durfte, und die freundliche Herberge am Hanseatenweg, wo ich schlafen durfte, änderten nichts an diesem verdammt melancholischen Gefühl: Ich fühlte mich einsam. West-Berlin war eine fremde Stadt, und ich war eine im Westen unbekannte Kritikerin. Wie sollte ich da was erleben, was sich außerhalb der Filme beschreiben ließ, was Reportagetaugliches! Ohne Westmark konnte ich nicht ins Florian oder in die Paris Bar gehen, und für die Berlinale-Partys bekam ich keine Einladungen. Ich fühlte mich ausgeschlossen.

Eine Passage in meinem Berlinale-Bericht fasst zusammen, wie ich das West-Berliner Festival damals sah: „Günstige Umstände verschlugen mich in ein feines Restaurant in einer feinen Straße. Da ging die Tür auf und Kirk Douglas trat ein. Spartakus im Smoking, am Arm eine Lady in Glamour. Das Pärchen durchschritt das Lokal, disponierte etwas, drehte um und verschwand, wie es aufgetaucht war, im Nebel. Draußen wartete der Chauffeur mit einem großen schwarzen Schirm. Das war Hollywood von gestern – und Kirk Douglas der einzige Star, den ich während dieser Festspiele zu sehen bekam.“

Es war ein himmelweiter Unterschied zu den anderen Festivals, die ich kannte, vor allem zu Moskau. Auf dem Moskauer Festival wohnten alle im selben Hotel, im Rossija, die Stars und die Journalisten. Das riesige Restaurant war zu später Stunde ein Nachtclub, es gab nur diesen einen, wer nach den Filmen was trinken wollte, hatte keine andere Möglichkeit, er musste dahin. Man saß an der Bar neben Jeanne Moreau und Gérard Depardieu oder ging eben einfach mal an den Tisch von Marcello Mastroianni oder Robert de Niro, um ein Interview zu verabreden. An einem Vormittag kam ich an der Etagenbar bei einem Wodka-Juice (nicht O-Saft!) mit Sergio Leone ins Gespräch, daraus wurde eine Doppelseite für den „Sonntag“.

Auf den West-Berliner Festspielen wäre so was Spontanes undenkbar gewesen, da ging es normaler, protokollarischer zu. Die einzige Möglichkeit, Stars zu erleben, waren die Pressekonferenzen. Ich bin gern hingegangen, besonders, wenn sie im Palace Hotel stattfanden. Dort gab es äußerst einladende Toilettenräume, wo man sich in aller Ruhe vor schicken Spiegeln wieder in Form bringen konnte. Und der Kaffee im Palace war auch umsonst, nicht unwichtig für eine minderbemittelte Festivalteilnehmerin. An das Palace erinnere ich mich mit einem gewissen Gefühl der Geborgenheit.

Dennoch – die Fremdheit blieb. Erst als ich für das Festival-Bulletin Kolumnen schrieb, änderte sich das. Ich saß spätabends in einem Büro in der Budapester Straße, sah auf die Lichter von West-Berlin und schrieb über Walter Momper, er sehe aus wie ein Schwererziehbarer aus dem ersten sowjetischen Tonfilm, „Der Weg ins Leben“. Ich schrieb, ich arbeitete, ich saß an einem Schreibtisch in West-Berlin. Plötzlich leuchtete die Stadt, sie kam mir näher, und ich kam ihr näher.

1990 dann passierte ich zusammen mit vielen anderen Ost-Berlinern die Mauer und besuchte die 40. Filmfestspiele. Sie wurden mit „Magnolien aus Stahl“ eröffnet, einem leeren Streifen voller Stars. Moritz de Hadeln wollte nicht nur Glamour in diesem historischen Berlinale-Jahr, sondern den betörenden Glanz des Unerhörten – Sally Field und Julia Roberts auf der gefallenen Berliner Mauer – für dieses Bild nahm er einen schlechten Film in Kauf. Erika Gregor vom Forum des jungen Films sagte damals zu den Journalisten: „Wenn ihr das Wort DDR schreibt, Kinder, schreibt es mit Andacht, es ist das letzte Mal!“

Meine seltsamste Berlinale-Begegnung fand eines Nachts auf dem überraschend unbelebten Ku’damm statt. Ich traf, gemeinsam mit meiner Kollegin Regine Sylvester, auf Tütenpaula. Sie hockte da in düsterer Kälte, umgeben von ihren Plastiktüten und ihrem Einkaufswagen, ein Bild wie aus einem Fellini-Film. Das Plastikwesen starrte vor sich hin, wollte uns nicht wahrnehmen. Doch die Gelegenheit, die Krise des Kapitalismus hautnah zu erleben und unsere Solidarität mit den Armen dieser Welt zu bekunden, wollten wir uns nicht nehmen lassen: „Guten Abend, wir kommen aus der DDR, wir kennen so was nicht.“ Tütenpaula grunzte aus ihren Verpackungen: „Macht, dass ihr wegkommt, ihr blöden Ost-Tussis.“ Das war meine Berlinale: Kirk Douglas und Tütenpaula.

Aufgezeichnet von Christiane Peitz. Von Jutta Voigt ist 2009 das Buch „Im Osten geht die Sonne auf – Berichte aus anderen Zeiten“ erschienen (be.bra-Verlag, 224 Seiten, 16, 90 Euro).

Jutta Voigt

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