Kultur: Maximilian Schell im Gespräch: Ich küsse nicht gern auf der schiefen Ebene
Maximilian Schell, gebürtiger Wiener, aufgewachsen in der Schweiz, stand schon mit 11 Jahren in Zürich auf der Bühne. Nach dem Studium begann er seine Karierre am Stadttheater Basel.
Maximilian Schell, gebürtiger Wiener, aufgewachsen in der Schweiz, stand schon mit 11 Jahren in Zürich auf der Bühne. Nach dem Studium begann er seine Karierre am Stadttheater Basel. Seinen Ruhm verdankt der Schauspieler, Regisseur, Produzent und Autor seiner Rolle des Nazis Hans Rolfe in dem Film "Das Urteil von Nürnberg", für die er mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Seit den 80ern versucht Schell sich neben Filmregie ("Wer liebt, dem wachsen Flügel", "Marlene") auch als Opernregisseur und Pianist.
Maximilian Schell, Sie pendeln zwischen Kalifornien und Österreich hin und her, Ihre Frau ist Russin. Sind Sie ein Weltbürger?
Die Antwort Alfred Polgars auf die Frage, wo er am liebsten lebe, trifft auch auf mich zu: "Überall ein bisschen ungern." Ich glaube, ein Künstler braucht Wurzeln, um existieren zu können. Weder kann eine Palme in den Alpen, noch eine Tanne in der Wüste wachsen. Ich fühle mich manchmal losgerissen.
Gibt es aus der Sicht des amerikanischen Schmelztiegels die Vorstellung einer europäischen Kultur?
Ja, natürlich. Die Amerikaner fühlen sich den Europäern unterlegen, das ist ihre Achillesferse. Ich bin in Hollywood einmal mit einem bildhübschen Mädchen im offenen Wagen mit lauter Musik den Sunsetboulvard hinuntergefahren. Als sie mich nach meinem Lieblingskomponist fragte, erwiderte ich: "Mozart." Daraufhin wollte sie wissen, wie man Mozart schreibt. Das hat mich nachdenklich gestimmt. Es ist wohl typisch österreichisch, dass ich mir ein Leben ohne Mozart nicht vorstellen kann. Viele Amerikaner können sich ein Leben ohne Geld nicht vorstellen, ohne Mozart können sie gut leben. Allerdings, wenn es um Sport geht, dann fühle ich mich ganz als Schweizer.
Kommt Ihre Tochter Nastassja mit der kulturellen Vielfalt zurecht?
Vor einigen Jahren wollte ich im Garten meines kalifornischen Hauses eine Mondfinsternis fotografieren. Da hörte ich eine wütende Stimme aus dem Kinderzimmer: "Mein Vater hat gesagt, dass es eine Mondfinsternis gibt. Die werde ich mir jetzt anschauen und nicht schlafen gehen." Als ich hinauf ging, um die elterliche Autorität meiner Frau zu unterstützen, rief mir meine fünfjährige Tochter zu: "Papi, ich kämpfe für meine Freiheit!" Da wusste ich, sie ist eine echte Schweizerin.
Ihr eigener Vater, der Schriftsteller Hermann Ferdinand Schell, ist mit nur vierzig Franken in der Tasche von Wien nach Zürich gezogen. Und doch konnten Sie und Ihre drei Geschwister dort in der prächtigen Villa Wesendonck aufwachsen.
Als Schriftsteller in der Schweiz sein Geld verdienen zu wollen, kam dem Versuch gleich, Eiscreme am Nordpol zu verkaufen. Pro abgedrucktes Gedicht bekam mein Vater fünf Franken. Davon haben wir gelebt. Aber es war eine schöne Zeit. Wir wohnten in der Dienerwohnung der Villa Wesendonck, wuschen uns in Waschzubern, spielten in dem herrlichen Park und erhielten eine hervorragende Erziehung, voller Fantasie. Ich bin wie ein Prinz aufgewachsen. Immer wieder ging ich zur Allee, in der Richard Wagner "Tristan und Isolde" geschrieben hat, oder in das Lavater-Häuschen, in dem Goethe zu Besuch war. Als mein Vater einmal mit uns durch Wien spazierte, schenkte er uns plötzlich alle Laternenlichter der Stadt. Maria bekam die blauen, Irmmy die roten, Carl die weißen und ich die grünen. Wir fühlten uns reich beschenkt.
Sie haben Kunst- und Literaturgeschichte, Theater und Musikwissenschaft studiert. Wurden Sie auch Schauspieler, um die großen Figuren der Weltliteratur darzustellen?
Ich wurde Schauspieler, um Geld zu verdienen. So prosaisch war das. Als ich Marc Chagall fragte, ob er gerne fliege, um sich von den Wolkenbildungen inspirieren zu lassen, meinte er lakonisch: "Nein, wegen der Stewardessen."
Eines ihrer ersten Engagements war an den Städtischen Bühnen in Essen. Stimmt es, dass Sie von dort nach Düsseldorf geradelt sind, um Gustaf Gründgens im Schauspielhaus zu erleben?
Ich hatte kein Geld und bekam gerade noch einen Platz in der letzten Reihe. Es wurde "Das Herrenhaus" von Thomas Wolfe gespielt. Ich war so müde, dass ich beinahe eingeschlafen wäre. Aber als Gründgens auf der Bühne stand, war ich hellwach.
Sie haben auch ein Stück mit dem Titel "Die Stadt wird dunkel" für Gründgens verfasst ...
Er hat nie ein Wort darüber verloren. Aber er besetzte mich in der Uraufführung von Laurence Durells "Sappho". Da musste ich mit Elisabeth Flickenschildt eine Liebesszene spielen. Das fiel mir schwer, Flickenschildt wirkte nicht gerade verführerisch auf mich. Ein schiefes Brett verkörperte eine Insel im ägäischen Meer. Gründgens wurde ungeduldig. Als ich ihm sagte, ich sei es nicht gewohnt, auf schiefen Ebenen zu küssen, erwiderte er: "Wieso, du bist doch Schweizer." Er war auch in seinen Repliken einmalig.
Laurence Olivier sagte, er habe sich bei seinen Rollen von Menschen aus seiner Umgebung inspirieren lassen. Wie erging es Ihnen, etwa beim Jedermann?
Den Jedermann habe ich einmal bei einer Studentenaufführung in der Schweizer Strafanstalt Regensdorf gespielt. Da saßen in der ersten Reihe lauter schwere Jungs in Ketten. Als ich sagte: "Mein Haus hat ein gut Ansehen", lachten alle. "Steht stattlich da, vornehm und reich... " Wieder Lacher. Auch als ich zu beten anfing, haben sie gelacht. Da habe ich mir vorgestellt, wie Gefängnisinsassen beten würden, habe die Fäuste zum Himmel erhoben und geschrien: "Vater, unser... " Da waren sie still. Ich habe diese Pose später für den Jedermann in Salzburg übernommen. Auch wenn keine schweren Jungs im Publikum saßen.
Ihre Hollywoodkarriere begann mit dem Film "The Young Lions", als Gegenspieler von Marlon Brando. Stimmt es, dass für diese Rolle auch Ihr Bruder Carl vorgesehen war?
Davon habe ich erst viel später erfahren. Man teilte mir telefonisch mit, ich sollte mich bei Marlon Brando für eine Rolle bewerben und habe sie bekommen. Der Regisseur Edward Dmytryk sagte mir später, man habe einen Bruder von Maria Schell erwartet. Aber es gab eben zwei. Als ich 1961 den Oscar für die Rolle des Verteidigers in "Das Urteil von Nürnberg" bekam, dachte ich, jetzt werden sie in Deutschland endlich aufhören, immer nur vom Bruder der Maria Schell zu reden. Doch bereits am Frankfurter Flughafen wurde ich mit der Schlagzeile empfangen: Der Bruder von Maria Schell hat den Oscar bekommen.
Hat man Ihnen nach dem Erfolg des "Urteils von Nürnberg" immer wieder ähnliche Rollen angetragen?
Wenn man in Hollywood einmal eine Rolle gespielt hat, dann wird man auf diesen Typus festgelegt. Und als Deutscher oder Schweizer gilt man nicht gerade als romantischer Held. Obwohl die Schweizer fantastische Liebhaber sind.
Aus dem Rahmen fällt Ihre Rolle des Astronomen, den Sie 1983 in "Das Schwarze Loch" gespielt haben...
Ron Miller, der Disney-Chef, war ein American-Football-Spieler. Als er erfuhr, dass ich europäischen Fußball bevorzuge, konnte er mich nicht mehr leiden. Ich sagte ihm, es sei schade, dass es bei Science-Fictions ausschließlich um technische Gags ginge. Mein Vorschlag, eine Tirade von physikalischen Formeln ins Weltall zu brüllen, bevor das Raumschiff zerbirst, schien ihm einzuleuchten. So habe ich wochenlang Einstein-Formeln auswendig gelernt, und es war eine großartige Szene. Aber die Stelle wurde herausgeschnitten.
Hatte Sie Ihr Freund Friedrich Dürrenmatt mit seinem Stück "Die Physiker" inspiriert?
Vielleicht indirekt. Ich kannte ihn damals noch nicht persönlich. Unsere Freundschaft begann über den Fußball. Es ging um das Cup-Finale Servette Genf gegen Grashoppers Zürich. Da ich Theater spielen musste und das Spiel nicht im Fernsehen sah, bat ich Dürrenmatt, einen Bericht auf meinen Anrufbeantworter zu sprechen. Als ich von der Aufführung nach Hause kam, drückte ich auf den Knopf und hörte nur Rauschen. Doch plötzlich kam seine Stimme: "Zwei zu Zwei". Das war alles.
Einmal hatten Sie einen Ballwechsel mit Pelé ...
Ja, anlässlich der Verleihung des Bundesfilmpreises befand ich mich in Berlin und ging auf dem Kurfürstendamm spazieren. Da bemerkte ich, wie begeisterte Menschen jemanden umringten. Als ich näher kam, sah ich, dass es Pelé war. Als plötzlich das Auge des Fußballgotts auf mich, den kleinen Schweizer fiel, rief er: "Simon, Simon Bolivar." Er hatte mich in dieser Rolle gesehen. In Südamerika ist Simon Bolivar ein Mythos. Pelé kam, küsste mich auf beide Wangen und spielte mir einen Ball zu. So kam es, dass wir auf dem Kurfürstendamm Fußball spielten. Das war einer der Höhepunkte meines Lebens.
Sind Sie nicht auch gemeinsam mit Friedrich Dürrenmatt nach Griechenland gereist?
Wir saßen im Theater des Dionysos, am Fuß der Akropolis. Auf einmal sagte Dürrenmatt zu mir, jeder Mensch würde beim Sitzen Atome hinterlassen, die viele tausend Jahre überleben könnten: "Wo du sitzt, saß vielleicht einmal Sokrates." Dann standen wir auf, um nach den Atomen des Sokrates zu suchen. Als ich von Dürrenmatts Tod erfuhr, wusste ich, dass mein bester Freund gestorben war.
Einer Ihrer beeindruckendsten Filme ist Ihre preisgekrönte Dokumentation "Marlene". Wie nahe kommt so ein Film der Wirklichkeit?
Was immer Marlene Dietrich in dem Film behauptet, ist wahr, auch wenn sie ständig gelogen hat. So erzählte sie von einer Schwester, die es nicht gibt. Und sie sagte, sie komme gerade aus Tokio, obwohl sie seit fünf Jahren das Haus nicht mehr verlassen hatte. Ich habe Marlene zur Zeit der Filmaufnahmen des Nürnberg-Films kennen gelernt. Sie kam ins Hotel "Château Marmor", in dem alle gewohnt hatten, von der Gabor bis Chaplin. Sie kam mit einem Eintopfgericht. Sie kochte gerne, aber es schmeckte furchtbar. Ich fragte sie als kleiner Schweizer, wie man es in Hollywood mit der lesbischen Liebe halte. Sie meinte, das sei völlig normal. Zwanzig Jahre später, als wir den Film machten, habe wir nicht mehr darüber gesprochen. Eigentlich hätte ich sie danach fragen sollen, denn es war ein wichtiges Element ihres Lebens.
Wird der geplante Film über Ihre Schwester Maria Schell auch eine Collage werden?
Wenn ich beginne, einen Film zu machen, weiß ich nie genau, was dabei heraus kommt. Ähnlich wie die Szene in Clouzots wunderbarem Picasso-Film. Man sieht, wie unter Picassos Händen aus dem Nichts ein Bild entsteht. Ich habe bestimmte Vorstellungen, sehe, wie Maria nach einem Herzinfarkt wieder gehen lernt. Wie sie aus dem Bett aufsteht und langsam den Weg von unserem Bauernhaus zur kleinen Hütte meines Großvaters im Schnee hinuntergeht. Sie soll an jeder Stelle, bis zu der sie es geschafft hat, ein hölzernes Wegzeichen setzen. Ich werde sie bestimmt auch im Bild zeigen. Aber so, dass nichts von ihrer wunderbaren Persönlichkeit verloren geht. Marlene hatte immer das Gefühl, sie verlöre etwas, wenn man sie als alte Frau sähe. Das war falsch, denn sie war schöner denn je. Sie war keine Maske mehr, sondern ein Mensch.
Heißt Älterwerden: immer mehr Masken ablegen?
Als man Woody Allen fragte, ob er unsterblich sein wolle, meinte er, als Künstler sei es ihm egal, aber als Mensch würde er gerne ewig leben. Ich habe Erich Kästner einmal gebeten, mir für meine Autographensammlung die Zeilen auf ein Papier zu schreiben: "Wer wagt sich den donnernden Zügen entgegenzustellen? Die kleinen Blümlein zwischen den Eisenbahnschwellen." Vielleicht ist das ein Motto meines Lebens.
Maximilian Schell[Sie pendeln zwischen Kalifornie]